25 Jahre Kulturmagazin Perlentaucher

Schätze finden

28. März 2025
Nils Kahlefendt

Metafeuilleton: Wie im Brennglas spiegelt das digitale Kulturmagazin Perlentaucher seit einem Vierteljahrhundert Literaturkritik und kulturelles Leben.

Thierry Chervel und Anja Seeliger

Anja Seeliger und Thierry Chervel haben vor 25 Jahren den "Perlentaucher" gegründet

PERLENTAUCHER

  • Auszeichnung: Der Börsenverein ehrt den "Perlentaucher" für "außergewöhnliches Engagement in der Buchbranche" auf der Leipziger Buchmesse mit der Goldenen Nadel (28. März, 14.30 Uhr, Halle 5, Stand G 200, Leseinsel Junge Verlage)
  • "Perlentaucher" in Zahlen: monatlich 500.000 Leser:innen, 22.000 Abonnenten des täglichen News­letters, 2.000 zahlende Mitglieder mit freiwilligem Abo
  • Pünktlich zum Jubiläum hat das Deutsche Literaturarchiv in Marbach das "Perlentaucher"-­Archiv (ca. 170.000 Seiten, 105 GB) in seine Sammlung "Literatur im Netz" übernommen.
Klingelschild Perlentaucher

"Um neun Uhr", sagt Anja Seeliger, "hat man wirklich schon einen kleinen Langstreckenlauf hinter sich." Ab sieben ist sie, wie die meisten der fünf festen "Perlentaucher"-­Mitarbeiter, morgens im Büro in einem fast provozierend unspektakulären Altneubau in Berlins Mitte. Thierry Chervel, mit dem Seeliger die Perlentaucher GmbH im März 2000 gegründet hat, sitzt bereits eine halbe Stunde früher am Rechner. Die Feuilleton-Presseschau, der Blick in die Kulturseiten der wichtigsten deutschen Zeitungen, wochentäglich um neun, samstags um zehn im Netz, war bis 2014 das Must-read der Holzzeitungs-Afi­cionados. Statt selbst die Feuilletons durchzublättern, lässt man sich die Schätzchen vom "Perlentaucher" empfehlen. Heute gibt es morgens gleich zwei Presseschauen – "9punkt" für Feuilleton-­Debatten, und "efeu" für Kunst und Kultur. In der "Bücherschau des Tages" berichtet der "Perlentaucher" dann ab 14 Uhr über die Buchkritiken in den wichtigsten Zeitungen und im Deutschlandradio. Neben diesen beiden den Arbeitstag der Perlen­taucher strukturierenden Adre­na­lin-Terminen wurden über die Jahre jede Menge andere Rubriken an- und aufgebaut: eine Magazin­rundschau, ein Medien­ticker, eine Zeit lang gab es sogar eine Presseschau für die Buchbranche ("Die Buch­macher"). 

Dazu hat der "Perlentaucher" wichtige Debatten nicht nur rapportiert, sondern mit eigenen, exklusiven Essays immer wieder selbst angestoßen – etwa zur Situation der Literaturkritik oder zum Problem des Antisemitismus. Ende vergangenen Jahres hat der "Perlentaucher"« ­gemeinsam mit dem Börsenverein einen Aufruf für die Freilassung des Friedenspreisträgers Boualem Sansal lanciert, den inzwischen fünf Nobelpreisträger und prominente Autorinnen und Autoren wie Margaret Atwood, Anne Applebaum und Salman Rushdie unterzeichnet haben. Auf einer Solidaritätsveranstaltung in Berlin Anfang März lasen unter anderem Herta Müller und Daniel Kehlmann; Thierry Chervel sprach mit dem algerisch-französischen Schriftsteller Kamel Daoud. "Es ist wichtig, dass der Druck nicht nur aus Frankreich kommt. Natürlich ist der 'Perlentaucher' auch dafür da!"

Offizielles Gründungsdatum des "Perlentaucher" ist der 15. März 2000, los ging’s jedoch schon mit der Auswertung der Buchmesse­beilagen im Herbst 1999 – das Jahr, in dem Boris Becker für AOL warb ("Ich bin drin"). Google war in Deutschland noch unbekannt, man arbeitete mit Suchmaschinen wie AltaVista oder MetaGer, statt So­cial Media oder Smartphones gab es gefährlich pfeifende Modems. Thierry Chervel entdeckte die neuen Möglichkeiten des World Wide Web als Kulturkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Paris, Anja Seeliger bei der "taz", die technisch schon immer gut aufgestellt war. "Plötzlich konnte man die 'New York Times' zu Hause am Schreibtisch lesen", erinnert sich Chervel. "Der Computer hatte Bilder und nicht nur Textoberflächen. Seitdem hat es einen regelrechten Staffellauf der Medienrevolutionen gegeben." Die 50.000 Mark für die Gründung der GmbH brachten Chervel und Seeliger privat auf. Das Geschäftsprinzip: Selbst verfasste Resümees der Zeitungskritiken sollten an den Internetbuchhandel verkauft werden und so die Basis dafür schaffen, den "Perlentaucher" als Medium weiterzuentwickeln. Über Partnerschaftsprogramme kooperierte man mit Amazon und Bertelsmann. "Immerhin wurde BOL damals zweitgrößter Onlinebuchhändler in Deutschland – und hätte diese Position wohl noch ­heute, wenn man den Laden nach Thomas Middelhoffs Entlassung nicht dichtgemacht hätte" – davon ist Chervel überzeugt. 

Selbst Bücher verkaufen wollte der "Perlentaucher" damals noch nicht – erst vor fünf Jahren gründete man mit eichendorff21 eine eigene literarische Buchhandlung im Netz. Themen- und Bestenlisten (stolz ist man vor allem auf die eigene Taschenbuch-Bestenliste) navigieren durchs Angebot. "Damit heben wir vor allem das Potenzial, das unser eigenes Publikum darstellt", sagt Seeliger. "Wir haben buchaffine Leser, darunter auch viele Journalisten, Buchhändlerinnen und Verlagsleute." Die eigene "kuratierte Qualitätsbuchhandlung" trägt rund 20 Prozent zur Finanzierung des "Perlentaucher" bei, 20 Prozent spielen rund 2.000 zahlende Abonnenten ein, 60 Prozent werden durch Werbeeinnahmen erwirtschaftet – hier sind, über die Jahre stabil, vor allem literarische Ver­lage wie Suhrkamp, C. H. Beck, ­Fischer und Hanser aktiv.  

An der Wiege des Feuilletons

Das Klagen der Apokalyptiker über die Medienkrise ist älter als der "Perlentaucher". Die gute Botschaft: Die traditionellen Medien sind, wenn auch durch die Digitali­sierung gerupft, immer noch da. Wenn Chervel und Seeliger von den großen Jahren des "Debatten-­Feuilletons" schwärmen, bekommen sie glänzende Augen: "An manchen Wochentagen hatte das 'FAZ'-­Feuilleton zehn Seiten. Dazu die Berliner Seiten on top." Tem­pi passati. Chervel vermisst Formate, die stillschweigend aufgegeben wurden – Zeitschriftenrund­schauen etwa, oder den Fortsetzungsroman im Feuilleton, der einmal an der Wiege dieses Ressorts stand. Chervel und Seeliger sind lei­denschaftliche Zeitungsmenschen, doch die Objekte ihrer Zuneigung lieben nicht unbedingt zurück. "Süddeutsche" und "FAZ" wollten dem "Perlentaucher" verbieten, ihre Buchrezensionen in Abstracts zusammenzufassen und ­diese dann an Internetbuchhändler weiterzuvertreiben. "Ersetzungsverdacht" heißt das bürokratische Unwort dafür. Der Klageweg verschlang Zehntausende Euro und dauerte fünf Jahre, es ging hinauf bis zum Bundesgerichtshof und retour zum Oberlandesgericht. Am Ende durfte sich der "Perlentaucher" als Gewinner fühlen, doch zu welchem Preis? Video killed the Radio Star? Eben nicht, so Chervel. Für ihn läuft Medienökonomie anders: "Wir verweisen auf die Zeitungen, verlinken die ganze Zeit auf deren Inhalte. Wir bringen die Zeitungen immer wieder ins Spiel!"

Die Welt da draußen ist so aufregend, dass wir gar nicht anders können.

Thierry Chervel, "Perlentaucher"

Gretchenfrage KI

Und wie halten es die spiel- und experimentierfreudigen Macher des "Perlentaucher" mit der Gretchenfrage unserer Tage schlechthin: der künstlichen Intelligenz? "Resümiere mir diese Buchkritik im Stil des 'Perlentaucher'": Damit haben Chervel und Seeliger den Zauberlehrling ihrer Wahl natürlich schon einmal beauftragt. Das Ergebnis hat sie nicht wirklich überzeugt. "Es las sich wie die Bemühungen eines guten, aber etwas langweiligen Praktikanten", meint Chervel, "irgend­wie hatte es etwas Totes."« Dabei wissen die Perlentaucher, das sich KI unaufhaltsam ins Leben schleicht – und den Berlinern bei Übersetzungen schon jetzt wertvolle Dienste leistet. So lange es am Morgen die neue Zeitung gibt, wird also wohl auch in der Berliner Eichendorffstraße morgens um sieben das Licht angehen, werden zum Gurgeln der Kaffeemaschine die Rechner hochgefahren. "Die Welt da draußen ist so aufregend, dass wir gar nicht aufhören können." 

Verleihung des Grimme Online Awards 2003: Niclas Seeliger, Anja Seeliger, Thierry Chervel, Adam Cwientzek (v. l.)