Interview mit Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke

Vernetzung statt Wehmut

26. März 2025
Nils Kahlefendt

Leipzig feiert seinen Ruf als Buchstadt: Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke über Ziele und Projekte für ein ganz besonderes Themenjahr 2025. 

Skadi Jennicke ist seit 2016 ­Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur in Leipzig. Die Politikerin (Die Linke) wurde im September 2019 zudem zur ­Vorsitzenden im Kulturausschuss des Deutschen Städtetags gewählt.

Frau Jennicke, nach der Bundestagswahl finden wir uns in einer zutiefst polarisierten Gesellschaft wieder – und blicken erschrocken auf Deutschlandkarten, in denen das Staatsgebiet der alten DDR tiefblau dargestellt ist. Soll es jetzt die Kultur richten – und die Demokratie retten?

Skadi Jennicke: Kultur ist nicht die Krankenschwester der Nation. Statt vorschnell Schlüsse zu ziehen, orientiere ich mich an soziologischen Untersuchungen, wie von Steffen Mau, der in "Ungleich vereint" einige plausible Erklärungen für die Wahlergebnisse – auch schon der vergangenen Jahre – formuliert. Er zeigt, wie sich Ost und West trotz aller Annäherungen und positiver Entwicklungen weiterhin in Sozialstruktur, Demografie oder politischer Kultur unterscheiden. Die von ihm beschriebenen Herausforderungen im Osten Deutschlands – etwa die Verhärtung sozialer Unterschiede, das Abwandern der Bevölkerung oder das Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit – müssen zuvörderst politisch gelöst werden. So sehe ich es auch. Zugleich spielt Kultur dabei für mich eine wichtige Rolle. An Kulturaktivitäten teilzuhaben heißt, selbst wirksam zu werden, andere Sichtweisen zu verstehen oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Hier werden "demokratische Kompetenzen" eingeübt. Bei Büchern wird es offensichtlich: Sie klären auf, informieren, schaffen Verständnis, geben Rat und stärken die Debatten- und Demokratiefähigkeit. Insofern werde ich nicht aufhören, den Zusammenhang von Kultur und Demokratie zu betonen und für Kultur zu streiten, ohne sie als Retterin der Demokratie zu verklären.

Mit dem Themenjahr "Mehr als eine Geschichte. Buchstadt Leipzig" wollen Sie die politische Forderung des Stadtrats einlösen, die Buchstadt als „identitätsstiftendes Thema“ für Leipzig sichtbar zu machen. Was ist Ihr Ansatz? 

Skadi Jennicke: 
Das Themenjahr soll die Bedeutung Leipzigs als "zentraler Buchplatz" in Vergangenheit und Gegenwart reflektieren. In Leipzig wurde weltweit die erste Tageszeitung gedruckt, große Verlage – wie Breitkopf & Härtel, F. A. Brockhaus, Philipp Reclam, Kurt Wolff oder Insel, später auch Seemann oder Klett – hatten hier ihren Sitz, und vor dem Ersten Weltkrieg produzierte Leipzig 90 Prozent des weltweiten Notendrucks. 1912 wurde die "Deutsche Bücherei"“ eröffnet, und 1914 strömten etwa 2,3 Millionen Besucher zur "Bugra" – der Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik.
Doch die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik, aber vor allem die fast vollständige Zerstörung der Buchstadt Leipzig in der Bombennacht vom 4. Dezember 1943 führten zu dramatischen Veränderungen der Buchhandelsmetropole. Auch das Abwandern von Verlagen während der deutschen Teilung und der Transformationsjahre nach 1989 setzten der Buchstadt zu. Heute sind wir stolz auf die Leipziger Buchmesse und das Lesefest "Leipzig liest", die international ausstrahlen. Und dennoch bleibt bei vielen der wehmütige Blick in die Vergangenheit. Aber wie können wir das Gestrige heute fruchtbar machen? Leipzig ist heute ein Ort des Schreibens: Fünf der zwanzig Nominierten des Deutschen Buchpreises 2024 leben und schreiben in Leipzig, darunter Clemens Meyer, Daniela Krien, Ronya Othmann und auch die aktuelle Preisträgerin Martina Hefter. Leipzig ist bekannt für eine lebendige Gründerszene unabhängiger Verlage, die innovative Titel produzieren und international wahrgenommen werden, wie der Verlag Spector Books. Wie können wir dies noch besser sichtbar machen? Braucht es einen zentralen Ort für die Literatur-und Buchszene der Stadt? Und wie können sich die verschiedenen Buch- und Literaturakteure noch besser vernetzen und gemeinsame Interessen vertreten?  Das sind einige Fragen, die wir im Buchjahr besprechen wollen.

In den Nullerjahren, als das Licht an Leipziger Buchhandlungs- und Verlags-Adressen und in einst stolzen Druckhäusern fast im Monatsrhythmus ausging, hat sich fast so etwas wie eine fatalistische Routine des Verlusts breitgemacht. Können Sie erklären, warum das Herz der Leipzigerinnen und Leipziger noch immer vor allem am Medium der Gutenberg-Galaxis hängt, dem guten alten Buch?

Skadi Jennicke: Wie die Leipzigerinnen und Leipziger das "gute alte Buch" nutzen, darüber gibt es tatsächlich keine repräsentativen Erhebungen, wohl aber einige Indizien.  Die Leipziger Buchmesse und "Leipzig liest" setzen die Leipzigerinnen und Leipziger – und natürlich viele Tausend Gäste – jährlich vier Tage lang physisch und emotional in Bewegung. Renommierte Autorinnen und Autoren finden eine Heimat und ihr Publikum in Leipzig. Das Literaturaus Leipzig und das Festival "Leipziger Literarischer Herbst" sorgen mit einem exzellenten Programm für gefüllte Säle. Für die Leipziger Städtischen Bibliotheken können wir feststellen, dass die Zahlen der ausgegebenen Nutzerausweise, der Entleihungen und der Veranstaltungen in den letzten Jahren, abgesehen von der Corona-Pandemie, stetig steigen. Die Leipziger Ausbildungsorte rund ums Buch – vom Deutschen Literaturinstitut, über die HTWK – die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur bis zur Hochschule für Grafik- und Buchkunst – sind einmalig in ihrer Dichte und deutschlandweit nachgefragt. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek und das Museum für Druckkunst sind besondere Bildungsorte mit Mitmach-Angeboten. Ungewöhnliche Formate und Initiativen, wie die "BuWision" – Ausstellungen zur Buchgeschichte in den Schaufenstern der Leipziger Innenstadt – sorgen für Überraschungen. Das sind tolle Befunde, die die besondere Energie rund ums Buch in Leipzig spüren lassen.  

Wie können wir das Gestrige heute fruchtbar machen?

Skadi jennicke, Kulturbürgermeisterin in Leipzig

Das "Buchjahr" 2025 soll kein Krokodilstränen-Wettvergießen werden, Sie wollen aus der großen Vergangenheit Potenziale für die Zukunft schöpfen. Was haben Sie dabei im Blick?

Skadi Jennicke: Es geht um mehr Sichtbarkeit. Dies wollen wir beispielsweise in der Reihe "Literatur und ihre Orte", einem Kooperationsprojekt der Leipziger Städtischen Bibliotheken mit dem Literaturhaus Leipzig, ausloten. Wie können die beiden Institutionen so zusammenarbeiten, dass sie zu einem Zentrum der Literatur- und Buchstadt Leipzig werden? Was braucht es dafür? Welche Kooperationsformen? Welche Flächen und Räume? Welche Formate? Welche finanziellen Mittel? Das müssen wir natürlich auch mit Leipzigs Stadtpolitiker:innen diskutieren. Weiterhin geht es um stärkere Netzwerke, so soll es ein Vernetzungstreffen für Leipziger Verlage geben, es werden Vernetzungsformate für Leipziger Literaturzeitschriften stattfinden und es gibt Vorhaben zwischen großen Institutionen und jungen Initiativen, wie das Projekt "Bücher/über/morgen" des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in der Deutschen Nationalbibliothek mit den Leipziger Buchkindern e.V. Für Sichtbarkeit wird sicher auch das Projekt "Lichtw:orte" des Deutschen Literaturinstituts sorgen, bei dem Gedichte auf das Leipziger City-Hochhaus projiziert werden – das höchste Gebäude Leipzigs, das an ein aufgeklapptes Buch erinnert. Leipzig wird so wörtlich zum offenen Buch, zur weltoffenen Buchstadt.

Die Geburtsstunde des Börsenvereins vor 200 Jahren war ein äußerer Anlass für die Wahl des Themenjahrs. Was wünschen Sie sich als Kulturpolitikerin von einer Branche, die auch in hartem Wind steht?

Skadi Jennicke: Die Lage bei Verlagen, Buchhandlungen und der Buchbranche insgesamt ist – wie in der gesamten Wirtschaft – herausfordernd. Wir befinden uns in wirtschaftlich angespannten Zeiten, aber vielleicht ist dies auch ein guter Zeitpunkt, um deutlich zu machen, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft wichtig ist und weitreichende Effekte auslöst, sie stößt Innovationen an, fördert Öffentlichkeit und Diskurs und sorgt für Veränderungen in unseren Städten. Laut jüngst erschienenem Monitoringbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zur Kultur- und Kreativwirtschaft kann sich die Buchbranche gut behaupten. Kleine Verlage und der Buchhandel haben es aber weiterhin schwer. Sie sind besonders von den aufeinanderfolgenden Krisensituationen betroffen. Die Ampelkoalition hatte sich die strukturelle Förderung unabhängiger Verlage vorgenommen. Bedauerlich ist, dass die Gespräche ohne belastbare Ergebnisse verliefen. Und die Zeiten werden angesichts defizitärer Haushalte bei Bund, Land und Kommunen nicht besser. Natürlich wünsche ich mir, dass an die Diskussionen angeknüpft wird. Angesichts des Jubiläums des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wünsche ich mir, dass Leipzig als Gründungsort des Branchenverbandes sichtbar wird und wir hier über Strategien und Zukunftsfragen der Branche diskutieren können. Deshalb freue ich mich schon auf die Podiumsdiskussion am 30. April in der Schaubühne Lindenfels zum Thema "Das Buch, die Buchbranche und das freie Wort".

Als die Vorbereitungen zum Leipziger Themenjahr vor drei Jahren begannen, hätten wir uns die derzeitige Situation kaum vorstellen können; die öffentlichen Haushalte und damit auch die Kultur stehen nicht nur in Leipzig, sondern bundesweit massiv unter Druck – was heißt das für die Buchjahr-Projekte?

Skadi Jennicke: Wir haben in Leipzig noch keinen beschlossenen und genehmigten Haushalt für die Jahre 2025/2026 vorliegen. Den Beschluss durch den Leipziger Stadtrat erwarten wir Mitte März, die Genehmigung durch die Landesdirektion Sachsen im Juni dieses Jahres. Bis dahin arbeiten wir unter den Bedingungen der vorläufigen Haushaltsführung, die die Förderung von Projekten nahezu unmöglich machen.  Da wir viele Projekte aber schon seit einiger Zeit auf der Grundlage eines Stadtratsbeschlusses vom Dezember 2023 vorbereiten, können wir diese nicht einfach abbrechen. Wir fahren auf Sicht, wir tasten uns vor und schauen, wann welche Veranstaltungen stattfinden sollen. Nach Dringlichkeit wird dann sukzessive entschieden, ob wir eine Förderung ausreichen. Die Planungsunsicherheit ist natürlich unbefriedigend, aber wir suchen für jedes Vorhaben nach Lösungen.

In Krisenzeiten ist der Hang zur Musealisierung besonders groß – was wünschen Sie sich für die Zukunft der Buchstadt Leipzig?

Skadi Jennicke: Ich wünsche mir, dass das Buchjahr langfristig Aufmerksamkeit für die Buchstadt Leipzig in all ihren Facetten weckt – als erfolgreicher Buchmesseort, als Ausbildungsort, als Ort der Verlage, als Ort der Literaturvermittlung, als Ort beeindruckender Bibliotheken. Und ich wünsche mir, dass die kreative Energie der Stadt inspiriert und Autorinnen und Autoren hier ihre Heimat des Schreibens finden und zusammen mit Verlagen erfolgreiche Bücher produzieren.