Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2025

Im Dialog mit dem Text

27. März 2025
Sabine Rock

Seit über 20 Jahren schreibt und spricht sie kenntnisreich – nicht nur – über Lyrik: Beate Tröger erhält in Leipzig den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2025.

Beate Tröger

Beate Tröger

Beate Tröger

Ich stelle mir vor, dass ich mit einem Text am Tisch sitze wie mit einer Person.

 

Beate Tröger

Beate Tröger ist Kritikerin und Autorin, etwa für den Deutschlandfunk, für SWR und WDR, für den "Freitag" und die "Frank­furter Allgemeine ­Zeitung". Sie schreibt Features und ist Beraterin und Moderatorin des Poet:innenfests Erlangen. Sie gehört unter anderen der Vorjury des Leonce-und-­Lena-Preises der Stadt Darmstadt, der Jury der SWR-­Bestenliste und der Vergabejury der Villa-Aurora-­Stipendien an.

Was macht eine gute Literaturkritik aus – eine, die Sie selbst gern lesen würden?

Beate Tröger: Ich möchte einen eigenen Ton vernehmen, eine Begeisterung mitbekommen und eine Haltung erkennen. Ich möchte verstehen, wenn ich diese Kritik lese, mit welchem Besteck da gegessen wird oder ob jemand grob die Hände benutzt. Ich muss überhaupt nicht mit dem Urteil übereinstimmen oder damit, was das Ich dieses Textes interessant findet. 

In welcher Rolle sehen Sie sich: ­Aufklärerin, Empfehlende, Warnende?

Beate Tröger: Mir hat gefallen, was in der Begründung der Jury stand: Da ist vom Dialog mit dem Text die Rede. Ich stelle mir idealtypisch vor, dass ich mit einem Text am Tisch sitze, wie mit einer Person, und mit ihm spreche. In so einer Situation sind wir nicht gleichmäßig aufmerksam. An bestimmten Punkten haken wir aber ein, fragen nach. Es gibt nicht das eine, richtige Gespräch, es gibt verschiedene Fährten.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie mit Ihren Leser:innen gern die Glückserfahrungen teilen. Also lieber Lob als Verriss?

Beate Tröger: Auf jeden Fall. Warum soll man sich mit langweiligen oder ungenügenden Dingen beschäftigen, wenn es doch so viele anregende, horizonterweiternde Möglichkeiten gibt! Was nicht heißt, dass ich einen Verriss scheuen würde, aber ich habe nicht mehr so viel Gefallen daran.

Wie sah Ihr Weg zur Literaturkritikerin aus?

Beate Tröger: Ich sage das immer ein bisschen im Spaß, aber ich wollte gern einen Beruf, wo ich fürs Lesen bezahlt werde. Ich habe immer gelesen und in der Schule fragte der Deutschlehrer oft: "Beate, sollen wir das lesen?" Ich wollte auch immer mit anderen über Texte sprechen – über alles, was unter der großen Klammer der Literatur stattfindet.

Gab es Vorbilder?

Beate Tröger: Ich habe Michael Braun unglaublich geschätzt. In Erlangen, wo ich zunächst studiert habe, habe ich ihn beim Poetenfest moderieren gehört. Viel gelernt habe ich von meinem Deutschlehrer, der etwas gemacht hat, was ich sensationell finde: Wenn wir kamen, klappte er diese dreiteilige Tafel auf, und da stand immer ein Gedicht, das wir abschreiben sollten. Am Ende des Schuljahres hatten wir eine Anthologie beisammen! Dieser Lehrer, Franz Foff, ist ein wahnsinnig belesener und sehr politischer Mensch, ein Fein- und Schöngeist. Wichtig war auch Marlies Janz, meine Germanistik-Professorin an der Freien Universität, deren ­immense, dem Gegenstand zugewandte Strenge und philologische Genauigkeit bewundernswert waren. 

Die Jury ehrt Sie als "Fürsprecherin der Lyrik". Kommt diese Beschäftigung aus einem genuinen Interesse an Lyrik?

Beate Tröger: Ja, das war schon immer da. Ich war noch nicht in der Schule, da habe ich meine Eltern genötigt, mir die große Wilhelm-Busch-­Ausgabe zu kaufen. Ich bin mit gebundener Sprache aufgewachsen, auch mit Kinder­reimen und, ganz wichtig, mit Kirchen­liedern. Der Reim stellt einen akustischen Haltegriff dar fürs Memorieren. Der Hang zur Lyrik hat womöglich damit zu tun, ob man eher auditiv oder visuell wahrnimmt. Mir als auditivem Typus kam die Lyrik regelrecht entgegen. 

Was ist das Besondere daran, dieses Genre zu rezensieren?

Beate Tröger: Man kann sich weniger auf das Erzählerische zurückziehen. Natürlich gibt es narrative Lyrik, aber eben auch andere, bis hin zur hermetischen. Spricht man darüber, ist aber dennoch die Frage, was man erzählen kann. Vielleicht sagt man auch einfach: Ich habe manches zwar nicht verstanden, aber der Ton war besonders, es waren spannende Bilder drin. Nichtverstehen kann sehr produktiv sein! 

Sie arbeiten seit vielen Jahren frei für Printmedien und Hörfunk. Wie haben sich die Bedingungen und die Rezeption verändert?

Beate Tröger: Die Formate werden eindeutig kürzer. Ich hatte für meine erste Rezension in der "FAZ" eine halbe Seite über einen Band der Kritischen Werkausgabe Else Lasker­-Schülers. Heute undenkbar! Im Radio gab es sieben, acht Minuten für Rezensionen, heute sind es vier, fünf. Der Wunsch nach Kürze und Aktualität, angeheizt von der Schnelligkeit von Social Media, bringt die Leute um sehr viel.

Ihre liebste Lektüre in diesem noch jungen Jahr?

Beate Tröger: Ilka Quindeaus "Psychoanalyse und Anti­semitismus". Ich halte das Buch für grundstürzend nicht nur für die Antisemitismus­-Forschung, sondern überhaupt für die Frage, wie sich eine Gesellschaft im Umgang mit dem Anderen, dem Fremden organisiert. Ein unglaublich gutes Buch. Und es gibt tolle Lyrik-Neuerscheinungen.

Was bedeutet Ihnen der Kerr-Preis?

Beate Tröger: Er ermöglicht ein kurzes Innehalten, die Frage: Was habe ich in den vergangenen 20 Jahren gemacht? Ein Moment der Selbstreflexion. Und: Ich finde es schön, dass die Jury sich wieder einmal für eine Frau entschieden hat.

ALFRED-KERR-PREIS FÜR LITERATURKRITIK

Der Preis wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins gemeinsam mit dem Börsenblatt vergeben und von der Klett-Stiftung gefördert. Verleihung in Leipzig: 27. März, 14 Uhr, Halle 5, H 313, Forum Unabhängige Verlage

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