Gastland-Serie: Auf einen Cider mit … Ingard Johnsrud

"Es gibt hier Lese-Abende, die dauern zweieinhalb Stunden"

28. März 2025
Nicola Bardola

Der norwegische Thriller-Autor Ingard Johnsrud ist gerade auf Lesetour durch Deutschland und aktuell zum ersten Mal in Leipzig. Was ist besonders am deutschen Publikum? Das erklärt er hier, und warum er mit der TV-Serie "Derrick" etwas Deutsch gelernt hat. Weiter geht es um Rechtsextremismus, Covid-Krise und Merkmale des Nordic Noir.

Ingard Johnsrud und sein aktueller Thriller

"Ich mag literarische Agenten, aber ich mag Leser noch mehr. Deshalb finde ich es hier so toll. Das ist ein Fest der Leser:innen", sagt der 51-jährige Ingard Johnsrud, der zum ersten Mal in Leipzig ist. Gerade tourt er mit seinem neuen Thriller "Echokammer Ein Fall für Benjamin & Tong" (Droemer) durch mehrere deutsche Städte. Dabei fällt ihm auf, dass das deutsche Publikum geduldiger ist als in Norwegen: "Hier nehmen sie sich Zeit. Sie hören mir sogar zu, wenn ich eine Passage auf Norwegisch vorlese. Danach liest natürlich ein Schauspieler oder Hörbuchsprecher auf Deutsch. Aber es gibt hier Lese-Abende, die dauern zweieinhalb Stunden. In Norwegen werfen sie dich für gewöhnlich nach 40 Minuten raus", schmunzelt der Osloer.

In Deutschland sind die Wahlen ja gerade vorüber. Die Leser:innen hier interpretieren 'Echokammer' mit ihrer aktuellen Demokratie-Erfahrung.

Ingard Johnsrud

Ein Freund Deutschlands

"Als ich Kind war, hatten wir nur drei Fernsehsender. Immer freitags um 21 Uhr kam 'Derrick' im Original mit Untertiteln. Das hat mich damals sehr beeindruckt und geprägt. Und das bisschen Deutsch habe ich mit Derrick und Harry Klein gelernt", so Johnsrud. Er gibt Kostproben. "Mein Großvater wuchs auf den Lofoten auf. Er war im Militär, als der Zweite Weltkrieg begann. Man warf ihn aus seinem Haus. Er war sehr verärgert über die Deutschen. Aber mit den Jahren, urteilte er milder, und das dank Derrick. Heute ist er ein Freund Deutschlands."

In "Echokammer" geht es um Parlamentswahlen in Norwegen, die von rechtsextremistischen Terroristen torpediert werden. "Und in Deutschland sind die Wahlen ja gerade vorüber. Die Leser:innen hier interpretieren 'Echokammer' mit ihrer aktuellen Demokratie-Erfahrung. Mein Thriller ist nicht sehr weit weg von wahren Begebenheiten", beteuert Ingard Johnsrud. Er stellt der geplanten Trilogie um das Ermittlerteam Benjamin & Tong ein Zitat von Michael Ende aus "die unendliche Geschichte" voran: "Und nichts gibt größere Macht über die Menschen als die Lüge. Denn die Menschen, Söhnchen, leben von Vorstellungen. Und die kann man lenken. Diese Macht ist das Einzige, was zählt."

Alle wissen, dass politisch in den USA und in Russland zurzeit massiv gelogen wird.

Ingard Johnsrud

Wie wird man Rechtsextremist?

 "Vertrauen ist ein grundsätzliches Fundament für alle menschlichen Beziehungen, sei es im Privatleben, in einer Ehe, sei es in der Politik. Heute können wir uns nicht mehr sicher sein, ob wir glauben können, was wir sehen, was wir hören, was wir lesen. Die Zahl der Menschen, die nicht mehr vertrauen, nimmt zu. Entsprechend nimmt die Zahl der Lügen zu. Alle wissen, dass politisch in den USA und in Russland zurzeit massiv gelogen wird. Die Demokratien in Europa stehen zwischen den Blöcken und versuchen sich klar zu werden, wie sie damit umgehen sollen. Und das versuche ich zu beschreiben, nämlich wie Wahlen manipuliert werden, auch bei uns. Und wie um diese Mach, wie Michael Ende sie beschreibt gerungen wird."

Das Schreiben eines Kriminalromans sei immer ein Balance-Akt, meint Johnsrud, der bereits mit seiner frühehren Thriller-Trilogie rund um den Osloer Hauptkommissar Fredrik Beier (u.a. "Der Hirte", Blanvalet) auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt hat. "Eine Kriminal-Handlung muss ständig vorangetrieben werden. Bei 'Echokammer' ist es der Count-Down hin zum Wahltag. Andererseits will ich glaubwürdige Figuren schaffen. Und die Leser:innen sollen sich mit ihnen identifizieren können. Auch bei der Beschreibung der Terroristen versuche ich den Weg aufzuzeigen, der sie dorthin geführt hat. Wie wird man Rechtsextremist? Ich will nicht, dass man sie bemitleidet, ich will aber vielleicht eine Art des Verständnisses für deren Entwicklung ermöglichen."  

Der Autor am Droemer-Stand auf der Leipziger Buchmesse

Vom Umgang mit Katastrophen

Die Covid-Krise sei ein starker Katalysator gewesen, was das Misstrauen der Bevölkerung in die Regierungen betrifft. In Norwegen vertraue zwar eine Mehrheit nach wie vor in medizinischen Fragen der Regierung. Aber es werde derzeit eine Debatte darüber gefordert, ob die Reaktionsweise der Regierung angemessen war, ob die Restriktionen gerade gegenüber Kindern gerechtfertigt waren. "Jetzt sehen wir, dass viele Heranwachsende als Folge der Covid-Maßnahmen psychische Schwierigkeiten entwickeln. Aber das wird kaum thematisiert. Die Schweden sind einen eigenen Weg gegangen. Sie haben nicht die Politik, sondern Fachleute entscheiden lassen. Covid hat sich dort anders entwickelt, aber in Summe hat Schweden nicht mehr Opfer zu beklagen. Stattdessen hat die Bevölkerung keine Einschränkungen erdulden müssen, und heute haben die Kinder keine dadurch hervorgerufenen psychischen Schwierigkeiten."

Wir müssen richtig lesen, und vor allem Bücher lesen, um unser kritisches Denken zu trainieren.

Ingard Johnsrud

Merkmale des Nordic Noir

In jeder Verschwörungstheorie stecke ein Kern Wahrheit, so Johnsrud. "Wir brauchen Medien und Regierende, denen wir vertrauen können. Wir sollten vertrauenswürdige Tageszeitungen und Zeitschriften kaufen, um die wenigen verbliebenen objektiven Medien zu unterstützen. Die Sozialen Medien sind hier keinen Hilfe. Wir müssen richtig lesen, und vor allem Bücher lesen, um unser kritisches Denken zu trainieren." Seine früheren Bücher seien einfacher gestrickt gewesen, was Verschwörungen betrifft. "Echokammer" basiere stärker auf wahren Begebenheiten. "Die britische Bevölkerung wurde vor der Brexit-Abtstimmung manipuliert. Ich transportiere das ins Fiktionale, aber es passiert wirklich." Diese Übertragungen seien vielleicht ein Merkmal guter skandinavischer Thriller.

Lesen statt dienen

"Nordic Noir entstand in den späten 1960er Jahren in Schweden. Man blickt auf die gesamte Gesellschaft. Die Kriminalfälle, die Aufklärung werden gesamtgesellschaftlich gesehen. Das war eine der Neuerungen. Aber natürlich trägt auch die skandinavische Landschaft zum Erfolg bei, die langen Sommertage, die Kälte in den kurzen Winternächten." Dieser Kontrast zwischen faszinierender Landschaft, gesellschaftlicher Behaglichkeit und bedrohlicher werdender Realpolitik wirke auf die Leser:innen.

Johnsrud hat drei Söhne, der älteste ist 18. Über Wehrpflicht werde auch in Norwegen diskutiert. Aber sein Sohn wolle Geschichte studieren und kriegerische Auseinandersetzungen durch Lesen und Denken, durch wissenschaftliche Kenntnisse vermeiden.