200 Jahre Börsenverein

Kurzweiliger Parforceritt durch die Geschichte des Buchhandels

3. April 2025
Stefan Hauck

Eintauchen in Geschichte(n): Aus Mikro- und Makroperspektiven blickt ein Band auf die bewegte Geschichte des Börsenvereins und des Buchhandels.

Innenseite aus "Zwischen Zeilen und Zeiten. Buchhandel und Verlage 1825 - 2025. Eine andere Geschichte des Börsenvereins."

Jede Menge Stress hatte die DDR-Zensur ab den 1960er Jahren mit Bertolt Brechts "Gesammelten Werken" – denn der Ostberliner Aufbau Verlag konnte nur dank der Lizenz von Suhrkamp drucken, bei dem sämtliche Brecht-Rechte lagen. Folglich konnten in der Ost- Ausgabe schlecht Texte fehlen oder gekürzt werden, denn sie musste identisch mit der Suhrkamp-Ausgabe sein – was der Zensor als Nötigung empfand und zu vielerlei Gutachten und Briefwechsel führte. 

Das kleine Kapitel über die editorischen Herausforderungen ist einer von 216 Beiträgen, die mehr als 200 Jahre Börsenvereins- und Buchhandelsgeschichte zusammenfassen. Die Historische Kommission des Börsenvereins hat damit die Münchner Buchwissenschaftlerin Christine Haug und die Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig, Stephanie Jacobs, beauftragt: Sie konnten 69 renommierte Autor:innen gewinnen, die in kurzen, 15 bis 20 Sätze umfassenden Kapiteln einen Parforceritt wagen. Darunter sind viele Wissenschaftler von Universitäten, Museen, Archiven, auch Verleger wie K. G. Saur, Christoph Links, Matthias Ulmer. 

Christine Haug, Stephanie Jacobs (Hrsg.): "Zwischen Zeilen und Zeiten. Buchhandel und Verlage 1825 – 2025. Eine andere Geschichte des Börsenvereins", Wallstein Verlag, 568 S., 28 €

Schmutz und Schundschriften

Dabei geht es etwa um Handels­regelungen wie die Abrechungs­modalitäten, den Sammelrevers 1975, die Einführung der Verkehrsnummer 1963 sowie einen Vorläufer des VLB: 1880 hatte der Buchhändler Adolph Russell es satt, sich durch die unzähligen Verlagskataloge hindurchzuwühlen. Aufgrund der akribischen Arbeit seines Mitarbeiters erschien 1881 eine 28-bändige Ausgabe aller Verlagsverzeichnisse, 800.000 Titel, eine unglaubliche Leistung für 80,85 Mark. 

Nachlesen lassen sich aber auch gesellschaftliche und politische Veränderungen, etwa die Eröffnung des ersten Frauenbuchladen 1975, die Indizierungen und Bücherprozesse, das "Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schmutz- und Schundschriften" 1926, das nicht nur freizügige Bücher traf, sondern insbesondere Heftromane wie "Frank Allan. Der Rächer der Enterbten". Oder die Anfänge des Bahnhofsbuchhandels, als "mit dem ersten Pfiff der herannahenden ­Lokomotive die Buchhändler zum Bahnsteig eilten und den Eisenbahnreisenden Zeitungen, Zeitschriften und Unterhaltungsliteratur im Taschenformat offerierten". Spätere Kioske galten wegen der anonymen Verkaufssituation als Hauptumschlagplatz für "minderwertige Lesestoffe". 
 

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Jede Seite macht den vorherigen und den nachfolgenden Text sichtbar.

Neustart in Wiesbaden

Dokumentiert wird auch die willfährige Unterwerfung des Börsenvereins unter das NS-Regime: Bereits am 12. April 1933 verabschiedete er ein "Sofortprogram", das die wirtschaftspolitischen wie ideologischen Ziele der neuen Reichsregierung vorauseilend übernahm. In der Folge wurden Bücher jüdischer Autor:innen entfernt und "volksbewusstes Denken" gefordert. Spannend die Kapitel des Neuanfangs 1945, als die Alliierten zwei Busse mit Leipziger Verlegern und Zwischenbuchhändlern nach Wiesbaden transferierten, damit der Börsenverein im Westen neu starten konnte. 

Verleger wird als Spion enttarnt

Es sind die Mikrogeschichten, die den Blick fürs große Ganze weiten. Viele sind zudem unterhaltsam, wie die des Verlegers und stellvertretenden Vorstehers des Leipziger Börsenvereins Günter Hofé, der 1963 beim Besuch der Frankfurter Buchmesse verhaftet wurde: Er spionierte als Agent gleichzeitig für die Stasi, KGB und BND, war aber letztlich unantastbar.

Optisch macht jede Buchseite den vorhergehenden wie den nachfolgenden Text sichtbar, verschränkt metaphorisch Vergangenheit und Zukunft. Viele aufschlussreiche Erkenntnisse stecken in dem 568-seitigen Werk, und wer wissen möchte, was die Redewendung "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts" mit Vorsteher Oskar von Hase zu tun hat: einfach nachschlagen.