Vintage-Charme

Darum sind Retro-Kalender derzeit so angesagt

29. Mai 2024
von Nele Marggraf

Was steckt hinter dem aktuellen Retro-Trend? Wir haben mit Kalenderverlagen gesprochen: über Nostalgie, Eskapismus, die gute alte Zeit – und darüber, was der Goldpreis damit zu tun hat.

So sah es um 1900 aus: Venedig in alten Ansichten

Rückwärtsgewandte Kalender – das klingt zunächst wie ein Widerspruch. »Retro-Motive wecken Erinnerungen und Emotionen, zeigen Menschen oder Gegenstände mit Geschichte und heben sich so von üblichen Konsumgütern ab«, sagt Alexandra Stolac, Produktmanagerin für Kunst im Korsch Verlag. »Außerdem markieren sie einen Gegenentwurf zu digital entstandenen Bildern.« Der Kauf von Retro-Produkten könne also als eine kleine Flucht in eine Welt gesehen werden, in der alles vermeintlich einfacher, sicherer und unbeschwerter war, so Stolac. »In einer Welt, in der sich heute so viel verändert und vieles als un­sicher empfunden wird, bietet Altbekanntes eine Art Sicherheit.«

Ackermann-Art Director Stephan Schlieker bringt das Bedürfnis nach nostalgischen Motiven und Produkten ebenfalls mit dem aktuellen Weltgeschehen zusammen: »Gewiefte Statistiker:innen könnten vermutlich einen Zusammenhang zwischen Krisenzeiten und Nostalgiebedürfnis feststellen, der analog zum Goldpreis verläuft. Aber von solchen Schwankungen abgesehen ist dieses Bedürfnis nach Nostalgie doch anscheinend ein sehr grundsätzliches und urmenschliches.« Auch Stefanie Folle, Vertriebsleiterin der Neumann Verlage, erkennt hier eine Entwicklung, die sich bereits seit ein paar Jahren abzeichnet.

Authentizität ist überall gefragt

Für wen sind die Kalender mit nos­talgischen Objekten und Retro-­Design gedacht? Gibt es eine ­explizite Zielgruppe, und wenn ja, welche? »Unsere Retro-Kalender beschäftigen sich überwiegend mit Themen, die für Frauen interessant sind – das heißt, hier wurde die Zielgruppe klar definiert, an die sich die Produkte richten«, antwortet ­Alexandra Stolac. Beim Ackermann Kunstverlag erfolgt die Differenzierung eher inhaltlich: »Wo beispielsweise ein ›Ars Floralis‹ mit seinen historischen Blumenillustrationen gut in einen gemütlichen Landhauskontext passt, sähen wir unser ›Blattwerk‹ mit den großformatigen Motiven eher in einer großstädtischen Altbauwohnung – die besondere Authentizität und Ästhetik ist überall gefragt«, meint Stephan Schlieker.

Stefanie Folle unterscheidet mehr nach Altersgruppen. »Speziell das jüngere Publikum empfindet die Designs als cool und trendy; diese Käuferschicht ist ja interessant für uns, denn wir wollen das Thema Kalender auch einer jüngeren Zielgruppe zugänglich machen.« Kalender mit Motiven wie Dampfloks seien aber ebenfalls absolute Klassiker, seit Jahren im Programm und eher an ein konservativ-etabliertes Publikum gerichtet. Mit den unterschiedlich gesetzten Schwerpunkten sprechen die Verlage letztlich eine breit gefächerte Klientel an. 

Vertraute Werte

Was sie eint, bringt Folle auf den Punkt: »Die Motivation der Käufer:innen, sich mit solchen Themen zu beschäftigen, ist die Besinnung auf eine Welt, in der alles noch ­etwas ruhiger, handgemacht und nicht so schnelllebig vonstattenging.« Folle sieht »einen gewissen Eskapismus in ›die gute alte Zeit‹, das sollte man aber auch nicht überbewerten«. So tiefgreifend und urmenschlich das Bedürfnis nach vertrauten Werten und Erlebnissen in turbulenten Zeiten sein mag – viele dieser Kalender sind vor allem eines: dekorativ und liebevoll gestaltet. Inhaltlich ist die Bandbreite groß und reicht vom »Vintage ­Voyage-Reiseposter-Kalender« (Ackermann), der Futter für das Fernweh in Form nostalgischer, bunter Motive verspricht, über »­Alles Reklame!« (Harenberg), den historische Werbeplakate bekannter Marken zieren, bis hin zu »Vinyl World« (teNeues), der die Kult- und Kulturgeschichte rund um die schwarzen Scheiben zeigt.