Retro-Trend

"Wie ein ständiger Blick in den Rückspiegel"

28. Mai 2024
Stefan Hauck

Retro-Kalender liegen deutlich im Trend. Warum das so ist, erläutert Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Marktforschungsinstituts rheingold Institut.

Stephan Grünewald

Wer sich zuhause einen Retro-Kalender an die Wand hängt: Was verbindet er mit den Retro-Motiven: Entschleunigung, Nostalgie, back to he roots?

Stephan Grünewald: Psychologisch passt der Retro-Trend gut in unsere Zeit. Kanzler Scholz hat zwar eine Zeitenwende ausgerufen, aber die hat noch gar nicht stattgefunden – stattdessen sind wir eher in einer ständigen Nachspielzeit. Die Menschen wollen, dass aktuellen Verhältnisse noch eine Zeit lang erhalten bleiben – trotz der Bedrohungen von außen. Sie flüchten dabei vor der beunruhigenden Wirklichkeit mit Krieg, Klimawandel etc., lassen nur das an sich heran, was für unseren Alltag unmittelbar von Bedeutung ist. Das aktuellen Sinn- und Zukunftsvakuum füllen die Menschen, indem sie die Aufbruchsstimmungen der vergangenen Jahrzehnte recyceln. Es ist etwa so, als würden wir ständig in den Rückspiegel schauen. Fernsehserien, Musik oder Kalender mit Motiven, die an die Vergangenheit erinnern, werden als bestärkend und beruhigend erlebt. Denn die Bilder zeigen ihnen, dass es früher geklappt hat, und vielleicht klappt es ja demnächst wieder.

Ist das ein Gegenentwurf zur digitalen Welt? Seit ein paar Jahren begeistern sich Leute unter 30 auch wieder für analoge Fotografie.

Stephan Grünewald: Das Analoge hat viele Qualitäten, die dem Digitalen abgehen. Die frühere analoge Lebensidee gleicht einer Schallplatte, die auch Risse bekommen kann, aber sie wird in klar erkennbaren Rillen abgespielt und ist dann irgendwann zu Ende. DVDs oder Streamings dagegen haben eine ewige Abspielzeit, da nutzt sich nichts ab, und man kann auf Knopfdruck von Höhepunkt zu Höhepunkt springen. So soll dann auch das ganze Leben funktionieren: Man reibt sich nicht mehr persönlich auf, möchte keine Risiken mehr eingehen und auf keine Rille festgelegt sein. Da bei geht aber auch die aufreibende Dramatik des Lebens verloren und so denken viele gerne an die 1970er und 1980er Jahre zurück, als die Menschen gefühlt noch ungeahnte Möglichkeiten und die Zukunft vor sich hatten. Diese recycelte Aufbruchstimmung greifen inzwischen die Werbung und Social Media auf, so dass auch Jüngere das als cool empfinden – in Wirklichkeit nutzen sie das kollektive Gedächtnis der Älteren.

 

Welche Zielgruppe kauft nach Ihren Beobachtungen Retro-Kalender?

Stephan Grünewald: Es gibt nicht diese eine Zielgruppe – Retro ist ja nicht gleich Retro, weil jeder Käufer eine andere Kindheit und Jugend hat. Wer sich den ABBA-Kalender aufhängt, erinnert sich gern an die 1970er Jahre zurück, und wer die handkolorierten Schwarzweiß-Fotografien mit Straßenszenen um 1900 an der Wand hat, nimmt sie als Sinnbilder für die gute alte Zeit, in der scheinbar alles seine festgefügte Ordnung hatte. Wir sind mittlerweile in einer neuen Biedermeierzeit angekommen, mit einer Cocooning-Mentalität, die viele Entwicklungen des realen Lebens einfach ausblendet. Selbst viele Jugendliche befinden sich nicht in einer Aufbruchsstimmung, sondern verhalten sich wie im Vorruhestand, wollen nach den langen Jahren der Schulzeit erstmal mit einer Reise eine Auszeit nehmen und nennen oder starten gleich ein Sabbatical.

Spiegelt der Vintage-Trend den Wunsch nach dem Unperfekten, wo man an den Objekten, an den Bildern bestimmte Spuren sieht?

Stephan Grünewald: Wenn Sie sich die Vintage-Möbel mit ihren Schrammen, Kratzern und abgeplatzten Farben anschauen, dann repräsentieren sie Schicksalsspuren, Verletzungen – denen man sich selbst nicht ausgesetzt hat. Die Geschichtlichkeit hat jetzt einen dekorativen Charakter und man schmückt sich mit einer Dramatik, die man selber nicht durchlitten hat. Auch das ist letztlich eine recycelte Stimmung, mit dem Ziel des Bewahrens. Auch beim Nachhaltigkeitstrend erleben wir einen konservativen Wunsch, dass die Welt doch nachhaltig so bleiben möge wie man sie seit Kindertagen her kennt. Diese Retrotrends setzen also dem momentanen Vakuum in puncto Zukunftsvisionen hoffnungsvoll stimmende Geborgenheitsbilder entgegen.