Debüts des Monats - Juni 2022

Tratschen, verletzen, träumen

15. Juni 2022
Stefan Hauck

Aus vielen kleinen Augenblicken baut Anna Herzig in "Die dritte Hälfte eines Lebens" Szenen auf, die Lebensläufe erfassbar machen, und bevölkert so den Ort Krimmwing: fiktiv, aber so nah am realen Leben, dass man schlucken muss. Denn Krimmwing vergisst nichts – und sanktioniert.

"Jedes Dorf hat ein kollektives Gedächtnis und Krimmwing im Besonderen ist eine Erinnerungsmaschine": Anna Herzig zeigt, dass dort, wo jeder jeden kennt, nichts vergessen und nichts verziehen wird. Dass Menschen in Rollen, in Verhältnisse, in Abhängigkeiten hineingeboren werden, aus denen sie sich kaum freistrampeln können. Aus vielen kleinen Momenten baut Herzig Szenen auf, die am Ende zu Lebensläufen werden; Leerstellen komplettiert die Leserin im Kopf. Auch wenn Krimmwing ein fiktiver Ort ist, so sind seine Bewohner:innen nah an der Realität, sie tratschen und fluchen, sie schauen, dass Normen nicht überschritten werden und Ungewohntes sanktioniert wird.

Herzig nimmt die anderen in den Blick, den Rathbauern, der statt Lorenz lieber Lorenza wäre; die Rosa, die mit 16 von Jackson aus Südafrika schwanger wird, denen aber jede gemeinsame Zukunft verbaut wird; ihrem Sohn Seppi, der von kleinauf von der Dorfgemeinschaft drangsaliert wird, weil er eben aus einer "ungehörigen" Beziehung stammt, dem dicken Frido, der nach Wien entflieht und doch wieder zurückkommt und Bürgermeister wird, aber immer unsichtbarer werden will und sich der Gesellschaft verweigert; seine Frau, die aufgrund ihrer Figur von den anderen nie angenommen wird. In wildesten Phantasien ergehen sich die Krimmwinger über sie, dichten ihnen Aktivitäten an, die nie stattfinden und setzen vielerlei Mechanismen an, die sie zu Außenseitern machen.

Es sind oft fast spartanisch kurze Sätze, mit denen Herzig Menschen, Gefühle, Situationen beschreibt, aber es braucht nicht mehr; sie wirken stärker, eindringlicher als lange Suaden. Ähnlich knapp die Dialoge, teils Ein-Wort-Gespräche, die die Salzburger Drehbuchautorin in ihrem Debütroman gezielt einstreut. So tauchen die Leser:innen tief in die Figuren ein, nehmen an ihrer Einsamkeit, ihrem Ausgeliefertsein, ihrem Schmerz teil, an ihren aufblitzenden schönen Momenten und denen voller Hoffnung, dass sich doch etwas ändern könne. Das hat stellenweise eine brutale Nüchternheit, die sich einfach nicht überdecken lässt, aber auch poetische Augenblicke, die nachhallen.