Debüts des Monats - März 2022

Große Fassade und die Wahrheiten dahinter

16. März 2022
Stefan Hauck

Wie in einem Fotoalbum erzählt Andrea Roedig die Geschichte einer Familie, analysiert schonungslos ihre Beziehungsgeflechte, taucht ein in die 1960er, 70er Jahre mit ihrem eigenen Zeitkolorit, das sie gekonnt einfängt.

Nähe und Distanz ist das Leitmotiv in Andrea Roedigs Debüt "Man kann Müttern nicht trauen" (dtv), eine Auseinandersetzung der Protagonistin mit der Familie, mit der Mutter, die ihr immer fremd geblieben ist. In Rückblenden erinnernd, tastend, fragend, ob den eigenen Gedächtnisfetzen zu trauen ist, abgleichend mit denen ihres Bruders Christoph, versucht die Ich-Erzählerin Andrea die Wesensmerkmale ihrer Mutter Lilo zu erfassen, Bruchteile fügen sich zusammen, aber Lilo bleibt fremd, entgleitet. "Ekel, Scham, Angst und Stolz. Das waren die Koordinaten des Lilo-Systems."

Die Geschichte mit stark autobiografischen Bezügen ist aber mehr als nur eine Auseinandersetzung mit Lilo und ihren Rollen, als Mutter, als Ehefrau, als Chefin eines Betriebs, als attraktive Frau, als Wohlfühltrinkerin, als Genusssüchtige ... Es ist auch die Konfrontation mit dem Vater, temporär an- wie abwesend, labil, der mit Doornkaat am Morgen einen krachenden Abstieg beginnt bis zur Obdachlosigkeit der gesamten Familie, und sich erst nach einer Entziehung wieder fängt. Roedig blättert wie in einem großen Fotoalbum die Geschichte der Familie auf, fortwirkende Kriegstraumata, die komplizierte Beziehung zwischen Lilo und deren Mutter Traudel, die zwischen ihrem Vater und dessen Eltern mit gutgehender Metzgerei in Düsseldorf, die der Vater in die Insolvenz wirtschaftet. Sie taucht ein in die 1960er, 70er, 80er Jahre mit ihrem je eigenen Zeitkolorit, das Roeder gekonnt einfängt. Überhaupt: Man liest, liest und ist mittendrin in jenen hochkomplizierten Verstrickungen, die sie als Erzählerin nachvollziehbar macht. Roedig schreibt ernüchternd, offen, hat aber die therapeutische Verarbeitung hinter sich und kann nun den Stoff literarisch fassen. "Ich durfte nichts sagen, die ganze lange Mendelssohnstraßenzeit über nicht, nur einmal hatte ich meiner Freundin Simone alles erzählt, weil es raus musste. Von Zwölfjähriger zu Zwölfjähriger. Simone machte nur große Augen und war komplett überfordert. Aber jetzt ist sie mein Anker, das Schlupfloch und die Lücke, in die ich das Dynamit legen kann."

Man kennt Roedig als Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Wespennest", sie hat einige Jahre die Kulturredaktion der Wochenzeitung "der Freitag" geleitet, war Geschäftsführerin der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung, sie schreibt regelmäßig zu den Themen Gender, Alltagsreportage und Kulturessay. Mit ihrem erzählerischen Debüt hat sie nun belletristisches Terrain betreten und einen schonungslosen Ton gefunden, der passgenau die selbst aufgeschichtete Fassade und die Wahrheiten dahinter beschreibt.