Debüts des Monats - April 2022

Eine Atempause als Neuanfang

13. April 2022
Stefan Hauck

Kontraste beherrschen Mirjam Wittigs Roman "An der Grasnarbe": auf der einen Seite das chaotisch unbeherrschbar erscheinende Leben in der Großstadt mit all seiner Hektik, auf der andere Seite das Landleben in seiner Begrenzung - und seinen Herausforderungen..

Ich-Erzählerin Noa ist von der einen Welt in die andere geflüchtet, hat sich eine Auszeit genommen, um zur Ruhe zu kommen, ihre Panikattacken in den Griff zu kriegen. Die haben einen Grund: Noa war Augenzeugin eines Attentats in einer Bahn, die Explosion hat Bilder in ihr eingebrannt, das Zerfetzte, und die Druckwelle ist bei jeder Panikattacke wieder präsent.

So präzise, wie Noa ihre Umgebung überall dort abscannt, wo es Menschenansammlungen gibt, wo Gefahr drohen könnte, so genau nimmt sie auch ihre Umgebung in der südfranzösischen Provinz wahr, wo sie als freiwillige Helferin auf einem Bauernhof arbeitet. Mirjam Wittig versteht es, die Leser:innen in das Leben auf dem Land hineinzuziehen, das alles andere als beschaulich ist, sondern von den Notwendigkeiten getrieben, die Gunst des Wetters und der Temperaturen auszunutzen. Noa beobachtet, und wir mit ihr, lernen die Familie kennen, Ella, Gregor und ihre Tochter Jade, Deutsche, die in der Abgeschiedenheit autonom mit Obst, Gemüse und Schafen wirtschaften, Schritt für Schritt ihre ökonomische Grundlage erweitern wollen und nur in stillen Momenten zugeben, dass sie gefährlich nah am Punkt des Überfordertseins sind, wo alles zu kippen droht. Die elfjährige Jade wird für Noa zu einem wichtigen Bezugspunkt so wie auch Noa für Jade - und vor dieser neuen Beziehung reflektiert Noa ihre Beziehungen zu den für sie wichtigen Menschen, die sie in Deutschland zurückgelassen hat, mit denen sie zaghaft bis zögerlich über das Handy wieder eine Verbindung aufnimmt, nicht wissend, wann sie wieder zurückkehren will. Eine Atempause, in der Noa ihr altes Leben mit vielen scheinbaren Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand stellt. Rückblenden verstärken den Stadt-Land-Kontrast.

Wittig, die in Witten Philosophie und Kulturreflexion, dann in Hildesheim Literarisches Schreiben und Lektorieren studiert hat, Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Bellatriste" war und für das Debütmanuskript den GWK-Förderpreis Literatur 2019 erhielt, nutzt die Sprache als Mittel der Reflexion, tastet sich mit Worten in die Landschaft und die Innenräume ihrer Protagonisten. Ihre Sätze sind Erkundungen, mit der sich ihre Hauptfigur der Realität versichern möchte, prüfend, was denn nun stimmt und was nicht, was wahr ist und was nicht, was für sie selbst richtig sein kann und was nicht. Wittig schildert den Alltag auf dem Hof und in der Natur, mit seinen Herausforderungen, seinen dramatischen und wieder beruhigenden Momenten, bringt ihn auch erzählerisch in einen Rhythmus, der die Leserin mitnimmt, zur stillen Begleiter:in werden lässt. So traurig wie Jade ist, als Noa zur transhumance, zur großen Sommerweidewanderung mit Ziegen und Schafen aufbricht, geht es dem Leser: Eigentlich möchte man diese erzählerische Figur noch viel länger begleiten.