Avis Mutter wiederum trennt sich in Istanbul von ihrem Mann und besteigt den Zug nach Deutschland, um als „Gastarbeiterin“ auf eigenen Füßen zu stehen, eine Zeit mit vielen Entbehrungen, Entrechtungen, Demütigungen, aber auch die zum Aufbruch in ein selbstbestimmteres Leben. Bei ihrem Tod hinterlässt sie einen alten Armreif und einem Zettel „Lilit Kuyumcian“, den Cwiertnia als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung Karlas mit der eigenen Familienvergangenheit setzt: Karla bringt ihren Vater Avi dazu, zum ersten Mal nach Armenien zu reisen, gemeinsam, und sich auf Spurensuche nach Lilit zu begeben. Laura Cwiertnia, 1987 in Bremen als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, schafft leise Bilder und Szenen, die haften bleiben, die Leser:innen aufwühlen und Fragen stellen. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern verknüpft jedes kurze Kapitel mit der Perspektive einer der Figuren und kontrastiert sie. Wie beim Häuten einer Zwiebel gelangt die Leserin immer tiefer zum Kern der Geschichte vor, die unsagbares Leid enthält, das so tief sitzt, dass es nicht ausgesprochen werden kann. Eine Literatur mit starkem Nachhall.
Laura Cwiertnia: "Auf der Straße heißen wir anders", Klett-Cotta, 240 S., 22 €