In Spanien ist Elvira Sastre so etwa wie bei uns Julia Engelmann, eine Poetry Slammerin, die mit ihren Gedichten große Konzertsäle und Hallen füllt, selbst in Corona-Zeiten. Ihre bislang fünf Gedichtbände verkaufen sich gut und finden sich auf den Bestsellerlisten, auch weil die 1992 in Segovia geborene und heute in Madrid lebende Lyrikerin social-media-mäßig sehr aktiv ist. Jetzt hat sie sich an ihren ersten Roman gewagt, der das Dialogische des Slammens nicht verbergen kann. Zwischen der Rahmenhandlung erörtert Sastre immer wieder Themenblöcke wie Liebe, Schmerz, Trennung etc. oder lässt ihre Protagonistin Dora diesbezüglich Überlegungen anstellen und Ratschläge erteilen.
Zwei Liebesbeziehungen rollt Sastre vor der Leserin aus: die zwischen Dora und Gael in Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs und die zwischen Doras Enkel Gael und Marta in der Gegenwart. Dora hatte in der Zweiten Republik die Chance, sich aus einfachen Verhältnissen für den Beruf einer Lehrerin zu qualifizieren, was ihrem Wissensdurst und dem Drang entsprach, zu vermitteln, mitzuteilen und dadurch Gesellschaft zu verändern. Einer ihrer Schüler war Gael, ein kubanischer Emigrantensohn, der in Büchern und Literatur Erfüllung fand und sich unsterblich in Dora verliebte, hartnäckig um sie warb und schließlich ihr Herz eroberte. Rückblickend erinnert sich Dora an diesen Verlauf des Entdeckens und Begehrens, ordnet ein, arbeitet begreifend das Wesen der Liebe heraus und beschreibt gleichzeitig die Atmosphäre des Bürgerkriegs, wie sich nach dem Sieg der Faschisten alles änderte, wie sie neu anfangen mussten, bis Gael fast zufällig ermordet wird: wegen eines Gedichtbands, seiner Hautfarbe, seiner Ideale. Mit dem gemeinsamen kleine Sohn Miguel macht sich Dora auf nach Kuba, kann dort aufatmen, wieder arbeiten, glücklich sein, auftanken und Jahre später nach Spanien zurückkehren.
Ihr Enkel Gael hingegen arbeitet die toxische Beziehung zu Marta auf, jedes seiner Kapitel wird nummeriert, von „Tag eins ohne dich“ bis „Tag zwölf ohne dich“. Gael ist introvertierter Kunstdozent und begeisterter Bildhauer, Marta ein Modell, das mit sprunghafter Lebendigkeit ihre familiären Verletzungen und eine dadurch entstandene Bindungsangst zu überspielen sucht. Ihre Anziehungskräfte, die Leidenschaft, die Unsicherheiten, der Versuch, eine Beziehung aufzubauen und in den Alltag zu retten führen in unzählige Hochstimmungen und Abstürze, zu Herzklopfen und Eifersüchten. Am Ende von "Die Tage ohne dich" (Thiele) steht der Leser vor einer Perlenkette an Reflexionen über die Liebe, die aus Lernprozessen besteht.