Spirale ins Bodenlose
Am Anfang steht ein rätselhafter Tod in einer sektenartigen Wohngemeinschaft: Gerda Blees versucht mit ungewöhnlichen Mitteln, das Thema zu fassen. Ihr Roman geht aufs Ganze.
Am Anfang steht ein rätselhafter Tod in einer sektenartigen Wohngemeinschaft: Gerda Blees versucht mit ungewöhnlichen Mitteln, das Thema zu fassen. Ihr Roman geht aufs Ganze.
Den Roman „Wir sind das Licht“ hätten andere Autorinnen oder Autoren wohl als Kammerspiel inszeniert: Da ist eine großstädtische Wohngemeinschaft, in der drei Frauen und ein cholerischer Außenseiter leben: Muriel, Petrus und Elisabeth haben alle sehr unterschiedliche Probleme damit, ihren Alltag zu meistern. Emotional oder psychisch angeschlagen, fühlen sie sich in der Leistungsgesellschaft schlicht fehl am Platz. Das ändert sich, als Elisabeths Schwester Melodie beschließt, die drei unter ihre Fittiche zu nehmen und eine WG zu gründen. Melodie fungiert als spiritueller Coach der Gruppe – unter ihrem Einfluss radikalisiert sich die Wohngemeinschaft immer weiter. Der esoterische Name der Wohngemenschaft „Liebe und Klang“ wird zum rigiden Programm: Alles wird miteinander geteilt, der Versuch, nichts mehr zu essen und stattdessen „Lichtnahrung“ zu sich zu nehmen, endet für Elisabeth schließlich mit dem Tod.
Wie konnte es so weit kommen? Was folgt daraus? Wer ist Schuld am Tod des stillen Mädchens? Wie kann man nach einer solchen Katastrophe weiterleben? Um diese Fragen kreist das Buch – aber eben bewusst nicht als Kammerspiel. Die Autorin wählt stattdessen die ungewöhnlichsten Perspektiven, lässt Gegenstände oder abstrakte Dinge erzählen. Ein Bravourstück! Zu Wort kommen etwa „Die Nacht“, ein Mixer, „die Eltern“ oder eine Luftmatratze (Betten gibt es in der WG nicht). Das könnte schiefgehen, tut es aber nicht. Im Gegenteil.
Gerda Blees, Jahrgang 1985, wurde für ihr Romandebüt „Wir sind das Licht“ u.a. mit dem „Nederlandse Boekhandelprijs“ und dem „Europäischen Literaturpreis“ ausgezeichnet. Zu Recht, kann man nur sagen! Inspiriert wurde die Autorin von einer wahren Begebenheit: „ als ich in der Zeitung eine Geschichte über eine Wohngemeinschaft wie diese las, in der eine Frau verhungert ist“, wie sie in einem Interview auf der Verlagsseite freimütig bekannte. Die Autorin hat übrigens selbst lange in Wohngemeinschaften gewohnt. Ihr Buch (240 S., 23 Euro) gibt auch sehr guten Stoff für Lesekreise ab, über Sekten, Psychologisches, Essstörungen lässt sich gut diskutieren. Dieser Roman ist mutig, packend und formell ambitioniert. Ein mutiges Stück Literatur, an dem man einzig kritisieren kann, dass die Autorin den stellenweise beklemmenden Stoff nicht noch weiter ausgesponnen hat. Am Ende bleiben die Leserinnen und Leser mit ihren Eindrücken zurück: Verstört und bereichert zugleich.
Gerda Bless: „Wir sind das Licht“, übersetzt aus dem Niederländischen von Lisa Mensing, Zsolnay, 240 S., 23 Euro