Kaffeehaussitzer und Longlist-Fan
Tusch und Konfetti: Der Deutsche Buchpreis feiert im Herbst 20. Geburtstag. Literaturblogger Uwe Kalkowski über preiswürdige Romane – und über seinen Leserausch als Ex-Juror.
Tusch und Konfetti: Der Deutsche Buchpreis feiert im Herbst 20. Geburtstag. Literaturblogger Uwe Kalkowski über preiswürdige Romane – und über seinen Leserausch als Ex-Juror.
Die Mischung aus Literaturpreis und Preis der Buchbranche, der nicht nur der Imagepflege dient, sondern vor allem die Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den Fokus rückt, macht den Deutschen Buchpreis zu etwas ganz Besonderem. Wie keine andere Auszeichnung regt er die Leserinnen und Leser dazu an, sich mit den unterschiedlichsten aktuellen Romanen auseinanderzusetzen. Er ist ein Schaufenster der Buchbranche. Gerade in Zeiten, in denen im Feuilleton und in den öffentlich-rechtlichen Sendern immer weniger über Bücher gesprochen wird, hat der Deutsche Buchpreis eine große Bedeutung für die Wahrnehmung von Literatur in der Öffentlichkeit. Besonders spannend ist für mich dabei jedes Jahr die Longlist, die stets einige Überraschungen bereithält; es sind immer Romane dabei, die ansonsten wohl nicht nur meiner Aufmerksamkeit entgangen wären.
Eine naheliegende Antwort auf diese Frage ist, sich das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren anzuschauen. Erst 2018 standen zum ersten Mal mehr Autorinnen als Autoren auf der Longlist, davor lag der Anteil deutlich unter der Hälfte. Bei der Shortlist sieht es nicht anders aus, interessant dabei ist aber, dass der Preis neun von 19 Mal an eine Autorin ging – und mit Kim de l’Horizon einmal an eine nonbinäre Person. Natürlich gibt es immer Luft nach oben, aber meiner Meinung nach hat sich beim Deutschen Buchpreis seit dem Start einiges getan. Und die Liste der nominierten und ausgezeichneten Romane ist ein reizvoller Querschnitt durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dervergangenen zwei Jahrzehnte.
Das halbe Jahr der Jurytätigkeit fühlte sich an, als sei man Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Nie zuvor in meinem Leben und nie wieder danach habe ich so viel gelesen, buchstäblich in jeder freien Minute, immer und überall: lesen vor dem Frühstück, lesen in der Mittagspause, lesen am Abend, lesen in der Nacht. Extra früher aufstehen, um mehr Lesezeit zu haben. Die Straßenbahn nehmen statt des Fahrrads, um lesen zu können. Lesen im Café (natürlich!), lesen im Gehen, lesen beim Schlangestehen. Das soziale Leben reduzierte sich auf ein Minimum. Und das alles war verbunden mit einem intensiven Austausch über das Gelesene, mit Jurysitzungen, in denen emotional diskutiert wurde, und mit dem Kennenlernen anderer Sichtweisen auf Literatur. Es war ein wahrer Leserausch und eine Erfahrung, die ich niemals missen möchte.
Außerdem hatte die Juryarbeit auch ganz konkrete Auswirkungen. Ich bin seit über 30 Jahren in der Buchbranche tätig, und nach meinem Studium der Verlagswirtschaft hatte mich die Jobsuche in den Bereich der juristischen Fachverlage geführt. Das war von der Arbeit her interessant, doch inhaltlich nicht unbedingt ein Herzblut-Thema. Als eine Art Ventil für meine Literaturbegeisterung entstand der Blog »Kaffeehaussitzer«.
Als im Juni 2013 mein allererster Blogbeitrag online ging, hätte ich allerdings niemals gedacht, was sich daraus alles ergeben würde - wie zum Beispiel die Berufung in die Buchpreis-Jury. Und nicht lange nach der Buchpreisverleihung führte ein Gespräch zum nächsten und ich wechselte zu einem belletristischen Verlag - seit 2019 arbeite ich für Eichborn. Das mag nicht ganz unmittelbar mit der Jury-Tätigkeit zu tun haben, aber sie war auf jeden Fall eine Weichenstellung für mein berufliches Leben.
Das halbe Jahr der Jurytätigkeit fühlte sich an, als sei man Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Nie zuvor in meinem Leben und nie wieder danach habe ich so viel gelesen.
Uwe Kalkowski, »Kaffeehaussitzer«
Nein, daran habe ich tatsächlich nie gedacht. Beim Lesen eines Buchs müssen mich Sprache und Handlungsaufbau überzeugen. Erst wenn da der Funke übergesprungen ist, beschäftige ich mich näher mit der Person des Autors oder der Autorin – egal, ob als Juror oder als Leser.
Vor dem Hintergrund, dass ich die Aufgabe des Preises vor allem darin sehe, breites Interesse an Literatur zu wecken, klingt die Antwort wie ein Spagat: Er muss sprachlich anspruchsvoll sein, über eine gewisse Komplexität verfügen und trotzdem so viele Menschen wie möglich begeistern. Für mich eher zweitrangig ist ein inhaltlicher Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Debatten.
Ein perfektes Preisträgerbuch im Sinne der vorigen Frage war »Herkunft« von Saša Stanišić – da hat für mich alles gestimmt. »Annette, ein Heldinnenepos« von Anne Weber begeisterte mich durch die grandiose sprachliche Umsetzung. Und »Kruso« von Lutz Seiler entwickelte einen solchen Sog, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte.
Das bringt eine Preisvergabe nun einmal mit sich. Bedauerlich finde ich eher, wie schnell das Interesse an der Longlist nachlässt, sobald die Shortlist veröffentlicht wurde: Die sechs Shortlist-Titel werden mit den Werbemitteln in den meisten Buchhandlungen vollständig präsentiert, während die 20 Longlist-Titel lange nicht so oft gemeinsam auf einem Büchertisch zu finden sind.
Ich habe in den vergangenen Monaten nur wenig aktuelle Literatur aus dem deutschen Sprachraum gelesen und bin daher umso gespannter auf die diesjährige Longlist. Ein Buch, dem ich die Auszeichnung sehr gewünscht hätte, ist schon vor der aktuellen Buchpreis-Runde erschienen: »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel – für mich einer der wichtigsten deutschsprachigen Romane der letzten Zeit.
Ich würde den Preis nutzen, um den Lesenachwuchs für aktuelle Literatur zu begeistern. Denkbar wären etwa Longlist-Buchpakete für Deutsch-Leistungskurse, die dazu aufgerufen werden, eigene Shortlists zusammenzustellen.
Uwe Kalkowski
Ich würde den Preis nutzen, um den Lesenachwuchs für aktuelle Literatur zu begeistern. Denkbar wären etwa Longlist-Buchpakete für Deutsch-Leistungskurse, die aufgerufen werden, eigene Shortlists zusammenzustellen, anschließend gäbe es Diskussionsrunden mit Jurymitgliedern – vor Ort oder online. Die besten Shortlist-Begründungen werden prämiert, es gibt Einladungen der Schülerinnen und Schüler zur Preisverleihung, Schulbesuche der Nominierten, der Preisträgerin oder des Preisträgers, begleitet von Social-Media-Kampagnen.
Das alles wäre mit einem großen Organisationsaufwand verbunden und würde eine Menge Geld kosten. Doch das wäre meiner Meinung nach besser angelegt als in jeder Buchmarketing-Kampagne.
Was ich auf jeden Fall beibehalten würde, ist die die jährlich wechselnde Zusammenstellung der Jury. Zum einen, weil es dadurch jedes Jahr einen frischen Blick auf den Deutschen Buchpreis gibt. Und zum anderen, weil eine permanente Jury-Zugehörigkeit bedeuten würde, die Hälfe jedes Jahres mit ununterbrochenem Lesen zu verbringen.
Wobei es gerne auch Wiederholungen geben dürfte, was in Einzelfällen ja auch schon vorkam. Und natürlich würde ich keinen Moment zögern, erneut Teil der Buchpreis-Jury zu sein und das unbeschreibliche Gefühl eines Leserauschs noch einmal erleben zu dürfen.