Das halbe Jahr der Jurytätigkeit fühlte sich an, als sei man Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Nie zuvor in meinem Leben und nie wieder danach habe ich so viel gelesen, buchstäblich in jeder freien Minute, immer und überall: lesen vor dem Frühstück, lesen in der Mittagspause, lesen am Abend, lesen in der Nacht. Extra früher aufstehen, um mehr Lesezeit zu haben. Die Straßenbahn nehmen statt des Fahrrads, um lesen zu können. Lesen im Café (natürlich!), lesen im Gehen, lesen beim Schlangestehen. Das soziale Leben reduzierte sich auf ein Minimum. Und das alles war verbunden mit einem intensiven Austausch über das Gelesene, mit Jurysitzungen, in denen emotional diskutiert wurde, und mit dem Kennenlernen anderer Sichtweisen auf Literatur. Es war ein wahrer Leserausch und eine Erfahrung, die ich niemals missen möchte.
Außerdem hatte die Juryarbeit auch ganz konkrete Auswirkungen. Ich bin seit über 30 Jahren in der Buchbranche tätig, und nach meinem Studium der Verlagswirtschaft hatte mich die Jobsuche in den Bereich der juristischen Fachverlage geführt. Das war von der Arbeit her interessant, doch inhaltlich nicht unbedingt ein Herzblut-Thema. Als eine Art Ventil für meine Literaturbegeisterung entstand der Blog »Kaffeehaussitzer«.
Als im Juni 2013 mein allererster Blogbeitrag online ging, hätte ich allerdings niemals gedacht, was sich daraus alles ergeben würde - wie zum Beispiel die Berufung in die Buchpreis-Jury. Und nicht lange nach der Buchpreisverleihung führte ein Gespräch zum nächsten und ich wechselte zu einem belletristischen Verlag - seit 2019 arbeite ich für Eichborn. Das mag nicht ganz unmittelbar mit der Jury-Tätigkeit zu tun haben, aber sie war auf jeden Fall eine Weichenstellung für mein berufliches Leben.