Die Stille hören
Kein Grab, keine Gedenktafel: Mit einer eindrucksvollen Graphic Novel halten Mehrdad Zaeri und Christina Laube die Erinnerung an eine ukrainische Zwangsarbeiterin fest.
Kein Grab, keine Gedenktafel: Mit einer eindrucksvollen Graphic Novel halten Mehrdad Zaeri und Christina Laube die Erinnerung an eine ukrainische Zwangsarbeiterin fest.
Es gibt Stoffe, die lassen einen nicht mehr los. Die müssen erzählt werden. Bei Mehrdad Zaeri fing es an mit der E-Mail einer über 80-jährigen Frau namens Helga, die eine Kindheitserfahrung vor dem endgültigen Vergessen bewahren wollte. Darin schrieb sie, wie sie aus der ausgebombten Heimatstadt mit ihrer Mutter zu einem Bauernhof flüchtete und sich dort mit der jungen ukrainischen Zwangsarbeiterin Anna anfreundete, die beim Heumachen auf offenem Feld von Tieffliegern getötet wurde. »Das war ein Moment, der sich in dem Kind tief eingebrannt hat: Anna, die der Lichtblick in ihrem kleinen Leben war, fremd wie sie und so Verbündete, stirbt – und mit ihr zugleich die Hoffnung, dass der eigene Vater je wieder aus dem Krieg zurückkehren könnte«, berichtet Zaeri.
Jahrzehnte später kehrt Helga als alte Frau an diesen Ort in Baden-Württemberg zurück und stellt fest: Von Anna gibt es kein Grab, keine Gedenktafel, keine Spur. So bittet sie vor etwa fünf Jahren Zaeri darum, die Erinnerung an Anna wachzuhalten, »und die einzige Form, in der sie sich das vorstellen konnte, war eine Graphic Novel«.
Der Illustrator Mehrdad Zaeri und seine Frau, die Fotografin und Autorin Christina Laube, hatten zu dieser Zeit elf Buchprojekte und einige Wände auf ihrem Arbeitsplan – als Duo Sourati gestalten die beiden Hausfassaden. »Und doch haben wir ihr zugesagt«, meint Christina Laube, »wir konnten nicht anders.«
Die Worte sollten sparsam gesetzt sein in der Graphic Novel, aber es gab viele Fragezeichen. »Ich brauche Texte von dir, um zeichnen zu können«, forderte Zaeri von Laube, und sie sagte: »Ich brauche Bilder von dir, um schreiben zu können.« So begannen sie mit einem leeren Skizzenbuch, machten Notizen, scribbelten. »Ich wusste vor meinem inneren Auge, was ich sehen möchte; Mehrdad hat gezeichnet, und wir haben in einem Prozess des Schreibmalens die Panels herausgearbeitet«, erzählt Laube, »wie ein Stein, der immer feiner geschliffen wird.«
So entstand zunächst ein Straßenzug, Häuser, eine erleuchtete Wohnung, dann die Innensicht, ein Zimmer mit einer alten Frau, eine Katze. Die in der Vergangenheit spielenden Panels bekamen einen dunklen Rahmen wie in einem Fotoalbum, die Panels der Gegenwart sind randlos. »Wir haben Helga öfter zu Hause in Frankenthal besucht, uns Details erzählen lassen«, blickt Zaeri zurück. Sie fuhren in das Dorf der Geschichte, »da, wo wir standen, stand vor 80 Jahren auch Anna«. »Helga wollte das Buch so gern noch erleben, also haben wir uns zwischen all unseren Projekten versucht zu beeilen«, erinnert sich Laube, »aber wenn Mehrdad zeichnet, heißt das ja nicht, dass im Nu eine Seite fertig ist – es ist ein Arbeitsprozess.«
Bald wurde den beiden klar, dass sie einen großen Verlag brauchen. »Wir möchten mit der Geschichte viele Menschen erreichen, und sie ist mit Bezug auf den Ukraine-Krieg sehr aktuell«, sagt Laube. »Mich kann es nicht gleichgültig lassen, wie es meinem Nachbarn geht«, ergänzt Zaeri, »wenn ich heute gegen Übergriffe ignorant bin, bin ich morgen der Nächste, der angegriffen wird.«
Die Stärken, die Zaeri und Laube als Team haben, ist ihr Wunsch nach Reduktion. Beide feilten so lange herum, »dass wir alles, was nicht nötig war, rausgeschmissen haben. Letztlich ist eine Momentaufnahme entstanden«, meint Zaeri. »So wie wir Wände gestalten, versuchen wir, eine eigene Erzählweise zu finden: Ich will die Stille hören«, erklärt Laube. Das ist in der Graphic Novel gelungen; die fragilen Konturlinien vermitteln die Instabilität des Erlebten; die Panels zeigen die harte Arbeit Annas, aber auch die kleinen Momente des Schönen. Es sind Szenen, die berühren. Auf der Buchmesse 2023 hatten Laube und Zaeri bei Verlagen vorgesprochen »und vielen standen beim Betrachten Tränen in den Augen«. In der Tat: Die Bilder gehen unter die Haut. Eigentlich wollte das Duo Sourati die Erinnerung an Anna in die Ukraine zurückbringen und sie an eine Hauswand in Kiew malen: »Wir werden warten.«