Oliver Vogel: Die Frage scheint mir im Moment nicht zu sein, ob man alles sagen darf, sondern eher: An welcher Stelle wollen wir als Gesellschaft Grenzen setzen? Und das sollte auch gesellschaftlich verhandelt werden. Mich interessiert dabei, ob die Dinge, die gesagt werden, stimmen – oder ob Fake News als Meinungen getarnt werden. Und ob es richtig ist, alles auf wenige Triggerpunkte zu reduzieren und Dinge zu emotionalisieren, die nicht emotionalisiert werden sollten.
Nora Bossong: Ich würde da unterscheiden. In den sozialen Medien und überhaupt im digitalen Raum geht es darum, geleitete Desinformation sichtbar zu machen – politische Einflussnahme von meist nicht demokratischen Akteuren. Dagegen etwas zu tun, heißt nicht, die Meinungsfreiheit zu beschneiden, sondern antidemokratisch gesinnte Propaganda nicht zuzulassen. Es ist das gute Recht eines Rechtsstaats, sich selbst auch zu schützen. Ein anderes Feld ist die sensible Sprache. Wenn man daran erinnert, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die des anderen beginnt, und ich den anderen verletze, dann habe ich ein kommunikatives Problem. Da ist Sensibilisieren sinnvoll, da gibt es aber auch eine Tendenz zur Überreglementierung. Gerade in diesem Diskurs verhärten sich die Seiten, wobei mir dies keine Frage der Meinungsfreiheit zu sein scheint, sondern die Frage einer Sprach- oder Begegnungskrise: Dass wir nicht mehr aufeinander zugehen können, dass wir gerade dabei sind, dies zu verlernen. Wir haben es also mit einem tiefer liegenden Problem zu tun, sodass das Ringen darum, wie weit Meinungsfreiheit gehen kann und darf, nur ein Symptom dessen ist, dass wir einander gar nicht mehr verstehen wollen.
Torsten Casimir: Mir fällt auf, dass wir uns gleich zu Beginn unseres Gesprächs sehr stark mit der Frage befassen, wo Grenzen sind. Wo etwas nicht mehr gesagt werden sollte, wo etwas zurückzuweisen ist, weil es nicht tolerierbar sei. Fast vergessen scheint die Zeit, als Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit noch auf eine interessierte Öffentlichkeit trafen. In den 70er Jahren hatte man einen Begriff von Meinungsfreiheit, der sehr weit reichte. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1958 in dem berühmten Lüth-Urteil festgestellt, dass diese besondere Freiheit eines der vornehmsten Grundrechte sei, die wir überhaupt haben. Unsere Freiheit insgesamt, auch unsere freiheitliche Ordnung, ist ohne Meinungsfreiheit gar nicht zu denken. Mein Gefühl, und auch mein Störgefühl im Augenblick ist, dass die Höchstrangigkeit der Meinungsfreiheit als Grundrecht gar nicht mehr so richtig ins Bewusstsein rückt, geschweige denn gefühlt und gelebt wird, weil wir ständig mit Grenzen des Sagbaren und mit Redeverboten, mit Boykottaufrufen, mit Zurückweisungen und Bezichtigungen operieren. Was Meinungsfreiheit für mich ausmacht: aushalten können, zuhören können und dann natürlich die Gegenrede formulieren. Das alles weicht gegenwärtig einer Unduldsamkeit, einer Bereitschaft, sich sofort gegenseitig in die Haare zu kriegen und unsere Freiheitsräume einzuengen.