Interviews zum Jahreswechsel (10): Annette Michael

"Der Erfolg der letzten beiden Jahre hat uns die Arbeit leichter gemacht"

19. Dezember 2022
Matthias Glatthor

Der Orlanda Verlag, bei dem Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga erscheint, steht für Themen wie Frauenrollen, Vielfalt und Diversität – Themen, die aktuell in den Fokus rücken. Welche Möglichkeiten das für Orlanda eröffnet und was in unserer Gesellschaft und weltweit noch zu tun ist, erläutert Verlegerin Annette Michael. Sie wünscht sich mehr Präsenz und Sichtbarkeit bei den großen Filialisten.

Ihre Verlagsthemen Frauen, Vielfalt, Diversität und gerechte Welt sind stärker denn je hierzulande in der Öffentlichkeit vertreten – wie erklären Sie sich das Interesse? Wie groß ist ihre Freude darüber?

Wir freuen uns sehr über das größere Interesse an diesen Themen. Aber es gibt da noch sehr viel Luft nach oben … und noch sehr viel zu tun. Die Weltlage hat sich nicht zum Besseren gewendet im letzten Jahr und vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine sind viele andere wichtige Themen in den Hintergrund geraten. Momentan befinden sich mehr Rettungsschiffe im Mittelmeer, denn je, die Lage der Frauen in Afghanistan ist katastrophal, im Iran riskieren Menschen ihr Leben beim Demonstrieren und schauen Sie nur, was in der Türkei aktuell passiert, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Das ist auf jeden Fall Motivation, mit unserem Fokus weiterzumachen und Geschichten zu erzählen, die diese Themen näherbringen.

Welche Baustellen gibt es speziell noch in unserer Gesellschaft?

Die Baustellen sind vielfältig. Es ist für einiges ein Anfang gemacht. Aber die Vielfalt unserer Gesellschaft, mit allem, was es braucht, um eine offene, tolerante Gesellschaft zu sein, muss immer noch in den Köpfen von vielen ankommen. Das ist ein Prozess, dazu müssen Haltungen hinterfragt werden, Änderungen zugelassen werden. Das ist anstrengend, jedoch notwendig. Da gibt es noch viel zu tun.

Können Sie jetzt die Früchte Ihrer jahrelangen Verlagsarbeit ernten? Sind ihre Titel auch im Buchhandel sichtbarer geworden?

Ja, auf jeden Fall. Aber trotz aller "vermeintlichen" Erfolge sind wir immer noch am Anfang. Es gibt uns jetzt seit fünf Jahren. In dieser Zeit ist viel passiert. Mit einem Titel auf der Spiegel Bestseller Liste bekommt man mehr Präsenz im Buchhandel, vor allem auch bei den großen Ketten. Das ist aber auch traurig in gewisser Weise, weil der Aufkleber ja nicht wirklich ein Qualitätssiegel ist. Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem bei den vielen unabhängigen Buchhandlungen bedanken, die uns kontinuierlich unterstützen und denen es auf Themen und Qualität ankommt. Von den großen Ketten wünschen wir uns generell mehr Unterstützung für die unabhängigen Verlage. Das ist für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft notwendig.

Was eröffnet das für Möglichkeiten in der Programmplanung für Orlanda?

Der Erfolg der letzten beiden Jahre hat uns auf jeden Fall die Arbeit leichter gemacht. Wir konnten es uns leisten, wichtige Titel zu übersetzen, was bei der Ausrichtung unseres Programms zwingend notwendig ist. Wir wollen zukünftig auf jeden Fall weiter den Blick auf die Notwendigkeit einer solidarischen Welt in den Fokus rücken. Wir müssen die Welt als Ganzes betrachten und nicht nur unseren "nördlichen globalen" Blick in den Fokus rücken.

In Ihrer Frühjahrsvorschau 2023 gibt es auch einen Abschnitt "Ideen für Schaufenster" – wie ist denn hier die Resonanz aus dem Buchhandel?

Wir bieten seit ein paar Jahren Streifenplakate und Postkarten für den Buchhandel an. Die werden zunehmend angenommen, was uns sehr freut. Sie werden aber auch gerne für Veranstaltungen verwendet.

Trotz Ukrainekrieg, Unterdrückung der Frauen im Iran und Afghanistan – können Sie die Hoffnung auf eine bessere Welt aufrechterhalten? Was tun Sie und Ihr Team, um eine positive Stimmung für ihre Arbeit zu behalten? 

"Die Hoffnung stirbt zuletzt" ist ein Grundmotto in meinem Leben. Wir sehen unsere Arbeit als kleinen Beitrag für eine bessere Welt, indem wir Geschichten erzählen, die Zuständen und Personen ein Gesicht geben, die zum Verständnis beitragen, die aufklären, erläutern und einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen. Das ist unser Anliegen und das werden wir nicht aufgeben.

Und dann freuen wir uns an den schönen Dingen, die passieren. Dazu gehörte in diesem Jahr auf jeden Fall die Auszeichnung von Djaïli Amadou Amal mit der Ehrendoktorwürde der Sorbonne. Das wäre vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen. Wichtig sind für uns immer wieder die bereichernden Begegnungen mit unseren Autorinnen.

Und eine Geschichte möchte ich noch erwähnen: Auf einer Veranstaltung in Frankfurt bei der Buchmesse haben wir drei Interviewpartner*innen aus dem neuen Buch von Florence Brokowski-Shekete kennengelernt. Zu sehen, wie sehr dieses Buchprojekt Menschen empowert hat, was das an Veränderung für sie bewirkt hat, das war das bewegendste Ereignis in diesem Jahr. Diese Momente geben uns Kraft und die Sicherheit, dass das, was wir tun, richtig und wichtig ist.

Deutscher Verlagspreis 2022, Nominierung für die Hotlist 2022 – Orlanda hat in diesem Jahr große Anerkennung erhalten. War das auch ein Glücksmoment? Wie wollen Sie das Preisgeld einsetzen?

Das waren auf jeden Fall eine schöne Anerkennungen für unsere Arbeit, über die wir uns sehr gefreut haben. Aber darauf ruhen wir uns nicht aus. Das Preisgeld haben wir vor allem für neue Übersetzungen eingesetzt. Und ein Teil wird für die Verstärkung des Teams verwendet.

Wie ist denn das bisherige Weihnachtsgeschäft für Orlanda gelaufen?

Wir hätten uns vom Weihnachtsgeschäft ehrlich gesagt etwas mehr erwartet. Aber vor den aktuellen Rahmenbedingungen war sicherlich nicht mehr möglich.

Welche Herausforderungen sehen Sie für Orlanda im Jahr 2023?

Wir schauen mit etwas Sorge auf das kommende Jahr. Eine Herausforderung für uns wird sein, dass wir die zu erwartenden Umsatzrückgänge, die zum Teil in diesem Jahr schon spürbar waren, irgendwie überbrücken. Aber vor allem heißt das, weitermachen, positiv gestimmt bleiben und hart arbeiten! Es wird darauf ankommen, kreativ zu sein und neue Ideen zu entwickeln. Wir hoffen aber auch, dass es im kommenden Jahr eine strukturelle Verlagsförderung geben wird, um die zu erwartenden "Einbrüche" aufzufangen.

Auf was freuen Sie sich 2023?

Ich freue mich vor allem auf die Begegnung mit vielen Autorinnen aus unserem Programm und viele interessante neue Titel. Ich freue mich auf die Buchmessen, darauf, dass es endlich wieder beide geben wird. Das sind immer spannenden Begegnungen und den Austausch mit Leser*innen, Multiplikator*innen und Kooperationspartner*innen empfinde ich als sehr bereichernd.

Schließlich: Wie geht es aktuell Tsitsi Dangarembga?

Tsitsi Dangarembga geht es so weit gut. Sie hat sich sehr über die überaus große Unterstützung aus Deutschland während des Gerichtsverfahrens gefreut.