"Wir hätten es wissen können"
Im Mai organisiert der Börsenverein die zweite »Woche der Meinungsfreiheit«. Mitzumachen – das ist für Michael Lemling, Sprecher der IG Meinungsfreiheit, das Mindeste, was Verlage und Buchhandlungen jetzt tun sollten.
Im Mai organisiert der Börsenverein die zweite »Woche der Meinungsfreiheit«. Mitzumachen – das ist für Michael Lemling, Sprecher der IG Meinungsfreiheit, das Mindeste, was Verlage und Buchhandlungen jetzt tun sollten.
Propaganda gehört zu den Waffen des Kriegs, auf beiden Seiten. Hat es Meinungsfreiheit deshalb im Moment besonders schwer?
Meinungsfreiheit hat es in Kriegszeiten immer besonders schwer. Und das liegt auch an der Propaganda, die ja eine Form von Machtausübung ist. Russland zieht hier alle Register. Doch bei aller Solidarität mit der Ukraine: Auch sie wird sich der Propaganda bedienen, um ihre Erzählung durchzusetzen. Propaganda ist instrumentalisierte Kommunikation zu bestimmten Zwecken – und da lässt sich nur schwer zwischen Gut und Böse unterscheiden.
Russland setzt seine Propaganda allerdings mit deutlich härteren Mitteln durch.
In Russland darf niemand mehr seine Meinung sagen, wenn sie von Putins Linie abweicht. Vom Krieg darf man schon gar nicht sprechen. Es gibt in Russland keine Meinungsfreiheit mehr, ebenso wenig wie in Belarus. Gleichzeitig kann man erahnen, wie mutig die Menschen in der Ukraine sind, wenn sie mit blau-gelben Fahnen gegen die russischen Besatzer demonstrieren. Die Ukrainer stehen auf und nehmen sich ihr Recht auf Meinungsfreiheit – allen Risiken zum Trotz. Davor kann man nur den Hut ziehen.
Auch bei uns wird darüber geklagt, man könne seine Meinung nicht mehr offen sagen – besonders gern am rechten Rand. Rückt der Ukraine-Krieg hier die verschobenen Maßstäbe wieder zurecht?
Unsere Auseinandersetzung wird dadurch sicher etwas runtergekühlt. Wenn Menschen das Gefühl haben, in Deutschland nicht mehr alles sagen zu dürfen, dann sollten wir das als gesellschaftliches Phänomen aber durchaus ernst nehmen. Aus meiner Sicht hat sich eine extrem moralisierende Streitkultur herausgebildet, die Widersprüche nicht mehr so richtig aushalten mag. Aber wenn wir nach Russland blicken, dann sind die Konflikte bei uns definitiv ein Luxusproblem.
Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, muss seinen Hut nehmen, weil er ein Putin-Freund ist, eine Bäckerei streicht das Wörtchen »russisch« vor dem Zupfkuchen. Neigen wir dazu, übers Ziel hinauszugehen?
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Konzert und wissen: Da dirigiert jemand, der eine homophobe Haltung vertritt und den Ukraine-Krieg befürwortet. Das dürfte den Konzertgenuss erheblich schmälern. Der springende Punkt ist: Die Stadt München hätte schon vor vier Jahren daraus die Konsequenzen ziehen können, dass sie seinen Vertrag gerade jetzt auflöst, dient aus meiner Sicht vor allem dazu, allgemeinen Applaus zu bekommen – was wiederum zu den oben erwähnten moralisierenden Debatten passt, die wir seit einigen Jahren führen. Wir gefallen uns in Selbstgerechtigkeit, beschränken uns auf symbolische Handlungen. Da würde ich den Buchhandel nicht ausnehmen.
Wer von uns hat denn die ukrainische Literatur in den vergangenen Jahren wirklich beachtet?
Michael Lemling
Starker Tobak. Inwiefern?
Wir gestalten Schaufenster für die Ukraine, teilen blau-gelbe Posts, sammeln Spenden – aber mal ehrlich: Wer von uns hat denn die ukrainische Literatur, die Sachbücher zur russischen Politik in den vergangenen Jahren wirklich beachtet? Nach der Annexion der Krim 2014 schrieb der Historiker Karl Schlögel sein Buch »Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen«. Schon beim Klappentext läuft es mir eiskalt den Rücken runter, denn da steht: »Russlands Aggression gegen die Ukraine hat Europa verändert. Das friedliche Zusammenleben der Staaten ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Wer heute wissen will, wie es um Europa steht, muss nach Kiew schauen. Dort entscheidet sich die Zukunft des Kontinents.« Das wurde 2015 geschrieben, vor sieben Jahren! Auch die ukrainischen Schriftsteller haben das immer wieder thematisiert, wir haben ihnen nur nicht zugehört. Wenn wir jetzt mit dem Zeigefinger auf Menschen wie Gergiev deuten, dann weisen dabei drei Finger auf uns zurück. Wir hätten es besser wissen können.
Der Krieg in der Ukraine absorbiert viel Energie, auch bei uns, die wir
im Moment nur mittelbar betroffen sind. Warum sollten Buchhandlungen trotzdem die Energie aufbringen,
die Woche der Meinungsfreiheit vorzubereiten, die im Mai ansteht?
Weil in Russland die letzten Reste der Meinungsfreiheit gerade abge-schafft worden sind. Es geht darum, Autorinnen und Autoren, die mundtot gemacht werden, eine Bühne zu geben. Dass das in diesem Jahr noch wichtiger geworden ist, dürfte für jeden sichtbar sein. Die Woche der Meinungsfreiheit findet erst zum zweiten Mal statt, aber sie wird uns nicht mehr verlassen. Für mich ist sie nicht nur ein ganz wichtiger Baustein der Verbandsarbeit, sondern auch jeder einzelnen Buchhandlung. Denn Buchhandlungen sind, wie der Claim der Aktionswoche schon sagt, Orte der Meinungsfreiheit. Und diese Rolle müssen sie immer wieder verteidigen – auch wenn sie in die Kritik geraten, weil sie zum Beispiel russische Bücher führen.
Haben Sie einen Tipp für Buchhandelskolleg:innen, die wenig Zeit, Budget und Personal haben, sich aber trotzdem an der Aktionswoche beteiligen wollen?
Das Mindeste, was jede Buchhandlung tun kann, ist ein Schaufenster oder einen Büchertisch zum Thema zu gestalten. 2021 haben wir als IG Meinungsfreiheit eine Bücherliste zusammengestellt, die in diesem Jahr noch einmal aktualisiert wird – mit Romanen, Sachbüchern, Kinderbüchern und Graphic Novels. Daraus eine Titelauswahl zu treffen und ein Plakat aufzuhängen: Das kann jede Buchhandlung leisten. Bei Lehmkuhl haben wir im vergangenen Jahr übrigens ein ganzes Schaufenster mit Debattenbüchern und aktuellen Zeitungsausschnitten gestaltet – das ist auf tolle Resonanz gestoßen.
Was planen Sie bei Lehmkuhl in diesem Jahr zur Aktionswoche?
Wir laden am 5. Mai zusammen mit dem Literaturhaus München zu einer Veranstaltung mit Volha Hapeyeva und Sasha Filipenko ein. Beide kommen aus Belarus, leben und schreiben heute im Exil.
Warum machen Sie Literatur aus Belarus zum Thema?
Im vergangenen September habe ich ein Podiumsgespräch mit dem Schriftsteller Viktor Martinowitsch geführt, der nach wie vor in Minsk lebt. Ihn habe ich damals gefragt: Was können wir für Euch in Belarus tun? Politisch wenig bis nichts, hat er damals geantwortet: Aber ihr könnt unsere Bücher übersetzen und lesen, uns eine Bühne geben und ein Mikrofon in die Hand drücken, damit wir gehört werden. Genau das wollen wir zur Woche der Meinungsfreiheit einlösen. Und ich hoffe, dass es viele andere Buchhandlungen genauso machen werden, auch mit der Literatur aus Russland und anderen Ländern dieser Welt, in denen die Freiheit des Wortes nichts gilt.
Alle Buchhandlungen sind im täglichen Geschäft ein unbestrittener und essenzieller Ort der Meinungsfreiheit, auf den aufmerksam gemacht werden muss.
Stephanie Krawehl