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Schluss mit Überkorrektheit

16. März 2022
Veronika Weiss

Sensitivity Reader bieten einen geschärften Blick auf möglicherweise ausgrenzende, klischeefördernde oder diskriminierende Textpassagen. Worin genau besteht der Nutzen von Sensitivity Reading, wenn ein gutes Lektorat ohnehin feinfühlig ist? Und wie entstehen trotz aller Feinfühligkeit spannungsgeladene Texte? Das fragt sich unsere Kolumnistin Veronika Weiss.

Sensitivity Reading stellt natürlich keine Konkurrenz zu einem professionellen Lektorat dar. Aber spricht das Angebot uns Lektor:innen nicht einiges an Sensibilität ab? Selbstverständlich achten wir auch auf Klischees und eindimensionale Darstellungen, und Autor:innen können sich darauf verlassen, dass wir darauf hinweisen.

Wenn es eine Stufe tiefer darum geht, Tatsachen zu verifizieren und sich in fremde Lebenswirklichkeiten hineinzuversetzen, stoßen wir Lektorierende irgendwann an unsere Grenzen. Dann kommt im Idealfall jemand dazu, der oder die sich zuhause fühlt in einer besonderen Welt – sei es ein Fachgebiet, ein Beruf oder eben die Lebenswelt einer Person mit Behinderung, Migrationsgeschichte oder ungewöhnlicher Geschlechtsidentität beispielsweise. Um sich bei der Ausgestaltung einer Figur aus der eigenen Komfortzone bewegen zu können und benachteiligte Gruppen inhaltlich einbeziehen zu können, ist das Sensitivity Reading die richtige Anlaufstelle. Ich halte es dennoch für eine Nischenangelegenheit.

Vor dem Schreiben auf Diversität achten

Grundsätzlich jeden Text ins Sensitivity-Lektorat zu geben, um alle möglichen Randgruppen mitzudenken, würde Probleme bringen: Es ist ja keine Lösung – und auch kein Weg zu einem guten Text! – irgendwelche Quoten einhalten zu wollen. Und übrigens ist es beim Lektorat viel zu spät, um an Vielfalt zu denken. Wer gegen Klischees und für einen diversen Protagonist:innenkreis arbeiten möchte, sollte das schon beim Plotten tun. Hierbei kann man sich auch beraten lassen, zum Beispiel vom Büro für vielfältiges Erzählen. Ich halte es für absolut richtig, bereits beim Konzept anzusetzen und von Anfang an auf Vielfalt zu achten, um aus dem bunten Leben mit all seinen besonderen Schönheiten zu erzählen.

Problematische Figuren müssen sein!

Unregelmäßigkeiten müssen aber genauso erlaubt sein. Wer schreibt, schreibt aus dem eigenen Erfahrungsschatz heraus, und in der eigenen Welt ist nicht alles ausgeglichen. Ungleichgewicht macht eine Story interessant, es werden Konflikte ausgetragen, es findet Reibung statt. Eine Figur vertritt nicht immer die Meinung des/der Autor:in – sonst hätte die Geschichte nämlich gar keine Vielfalt. Chauvinisten, Verbrecherinnen, Mörder, Cholerikerinnen, ungerechte Personen müssen vorkommen und sich auf ihre Art äußern dürfen

Texte brauchen Ecken und Kanten!

Es heißt von Seiten der Sensitivity Reader, man solle Mikroaggressionen aus Texten entfernen. Aber dann würde man spannende Inhalte mit Ecken und Kanten einfach glattbügeln. Ich frage mich: Hätte Ronja Räubertochters gewalttätige Familie einem Sensitivity Reading standgehalten? Die Problematisierung der Kleinwüchsigkeit Oskar Matzeraths? Emma Bovary als Klischee einer gelangweilten und fremdgehenden Ehefrau? Elias Alder, der Dorfjunge, der in quasi-inzestuöser Liebe zu seiner Cousine entbrennt? Wahrscheinlich nicht, wage ich zu behaupten. Und diese spannenden Figuren, diese facettenreichen Geschichten gehören zum Wertvollsten, was die Literatur zu bieten hat.

Ein „Befindlichkeitslektorat“ ist als Phänomen unserer Zeit entstanden, in der eine Sensibilität den Ton anzugeben versucht, die manchmal Grenzen überschreitet. Oft genug im Leben wird Überkorrektheit gefordert. Es ist gut, sich über Gerechtigkeit Gedanken zu machen, sie zu leben, respektvoll zu sein. Aber kreative Freiheit braucht auch ihren Raum, und Leser:innen haben einen Anspruch auf Provokation und Unbequemlichkeit. Bei aller Sensibilität sollten sich Schreibende ruhig in erster Linie auf ihr eigenes Gespür verlassen – und in zweiter Linie auf ein fundiertes Lektorat.

UNSERE KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (36) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.