Es heißt von Seiten der Sensitivity Reader, man solle Mikroaggressionen aus Texten entfernen. Aber dann würde man spannende Inhalte mit Ecken und Kanten einfach glattbügeln. Ich frage mich: Hätte Ronja Räubertochters gewalttätige Familie einem Sensitivity Reading standgehalten? Die Problematisierung der Kleinwüchsigkeit Oskar Matzeraths? Emma Bovary als Klischee einer gelangweilten und fremdgehenden Ehefrau? Elias Alder, der Dorfjunge, der in quasi-inzestuöser Liebe zu seiner Cousine entbrennt? Wahrscheinlich nicht, wage ich zu behaupten. Und diese spannenden Figuren, diese facettenreichen Geschichten gehören zum Wertvollsten, was die Literatur zu bieten hat.
Ein „Befindlichkeitslektorat“ ist als Phänomen unserer Zeit entstanden, in der eine Sensibilität den Ton anzugeben versucht, die manchmal Grenzen überschreitet. Oft genug im Leben wird Überkorrektheit gefordert. Es ist gut, sich über Gerechtigkeit Gedanken zu machen, sie zu leben, respektvoll zu sein. Aber kreative Freiheit braucht auch ihren Raum, und Leser:innen haben einen Anspruch auf Provokation und Unbequemlichkeit. Bei aller Sensibilität sollten sich Schreibende ruhig in erster Linie auf ihr eigenes Gespür verlassen – und in zweiter Linie auf ein fundiertes Lektorat.