Demokratie im Stresstest
Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft, Nahostkrieg und offener Antisemitismus – Symptome einer polarisierten Welt, die auch auf den Messebühnen in Leipzig seziert werden.
Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft, Nahostkrieg und offener Antisemitismus – Symptome einer polarisierten Welt, die auch auf den Messebühnen in Leipzig seziert werden.
Wir als Buchbranche leisten einen wesentlichen Beitrag für eine offene und informierte Gesellschaft. Daher sehen wir uns auch besonders in der Verantwortung, für den Erhalt demokratischer Grundsätze einzutreten.
Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins
Bisher klang das alles hypothetisch: Doch was passiert tatsächlich, wenn die AfD bei den Kommunalwahlen am 26. Mai in Thüringen Rathäuser erobert oder bei einer der Landtagswahlen im September stärkste Fraktion wird? Politikwissenschaftler wie Wolfgang Schroeder (Universität Kassel) halten es zwar für illusorisch, dass die AfD die absolute Mehrheit der Mandate in einem der drei Landtage Sachsen, Thüringen oder Brandenburg erreicht – aber sie könnte den politischen Diskurs weiter nach rechts verschieben (Interview mit dem WDR). Wie auch immer das Wählervotum ausfallen wird – die Demokratie in Deuschland befindet sich, erst recht nach den Enthüllungen von Correctiv, im Stresstest. Der Mobilisierungseffekt, den die AfD im rechten und rechtsextremen Spektrum auslöst, ist nicht zu unterschätzen. Dagegen gilt es, die Demokrat:innen, die immer noch die große Mehrheit im Land bilden, zu motivieren. Das fängt mit der Ausübung eines der wertvollsten Grundrechte an: der Teilnahme an freien, allgemeinen Wahlen. Wer nicht demokratisch oder überhaupt nicht wählt, stärkt am Ende die autoritäre Alternative. »Demokratie wählen. Jetzt« heißt es daher auf einem Plakat des Börsenvereins für die Woche der Meinungsfreiheit vom 3. bis 10. Mai – mit Blick auf die Europawahl am 9. Juni.
Einen Vorgeschmack auf die Aktionen, die in den nächsten Wochen noch kommen werden, bietet die Leipziger Buchmesse. Bereits am Eröffnungsabend im Gewandhaus am 20. März wird die Offenheit des Diskurses, die Suche nach Gemeinsamkeit, die für eine demokratische Gesellschaft substanziell sind, im Mittelpunkt stehen: mit dem deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm, der mit seiner Forderung nach einem radikalen Universalismus das Lagerdenken, wie es auch den israelisch-palästinensischen Konflikt beherrscht, überwinden will.
Die wichtigste Bühne für den Diskurs über Demokratie und Meinungsfreiheit auf der einen Seite sowie über Rechtsextremismus und Antisemitismus auf der anderen Seite wird das Forum Offene Gesellschaft in Halle 2, Stand E 600 sein, an dem sich die IG Meinungsfreiheit des Börsenvereins beteiligt – gemeinsam mit anderen Partnern wie der Bundeszentrale für politische Bildung, dem VS, dem Aktionsbündnis Verlage gegen Rechts, den beiden deutschen PEN-Verbänden und dem Recherchekollektiv Correctiv.
Um die Stärkung von Demokratie und Parlamentarismus – auch im Bewusstsein der Erstwähler:innen – geht es am Messedonnerstag in einer Diskussionsrunde des Berliner Büros des Börsenvereins, an der unter anderen Christiane Schenderlein, Sprecherin für Kultur und Medien der CDU / CSU-Bundestagsfraktion, Amy Kirchhoff, die Vorsitzende des LandesSchülerRats Sachsen sowie die Schriftstellerin Anne Rabe teilnehmen. Die in Berlin lebende Autorin und Mitbegründerin des PEN Berlin war mit ihrem Roman »Die Möglichkeit von Glück« für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Großen Zuspruch dürfte die auf den Messesonntag gelegte Veranstaltung »Der AfD-Komplex« haben: Correctiv thematisiert dabei den beim Potsdamer Geheimtreffen vorgestellten »Masterplan« des Identitären Martin Sellner – und weitere journalistische Ermittlungen aus acht Jahren. Sie zeigen, dass die völkisch-rechtsextreme Denkfigur der »Remigration« bis in das Herz der AfD vorgedrungen ist. Die Rechercheergebnisse von Correctiv erscheinen pünktlich zur Buchmesse als Buch im hauseigenen Verlag.
Der Vertrauensverlust gegenüber der Politik und die Empfänglichkeit für rechtsextreme Positionen scheinen in Ostdeutschland besonders ausgeprägt zu sein. Welche Gründe das hat und was dagegen getan werden müsste, analysiert »Tagesthemen«-Moderatorin Jessy Wellmer in ihrem kürzlich erschienenen Buch »Die neue Entfremdung« (Kiepenheuer & Witsch). Über ihre Thesen diskutiert sie am Messefreitag mit dem CDU-Politiker und früheren Innenminister Thomas de Maizière – auf Einladung der IG Meinungsfreiheit.
Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen sind Antisemitismus und Antizionismus virulenter denn je, auch in der deutschen Gesellschaft. Den Ursachen des Judenhasses und den Folgen für das Zusammenleben gehen mehrere Veranstaltungen nach, darunter auch ein Podium mit dem Autor Niklas Frank, Sohn des NS-Kriegsverbrechers Hans Frank, und dem Historiker Vojin Saša Vukadinović, der sich in seinem neuen Buch mit dem Verhältnis von Antizionismus und Identitätspolitik befasst. Für Kontroversen ist in Leipzig gesorgt – das beste Merkmal einer funktionierenden Demokratie.