Die Gedichtzyklen von Maria Stepanova – so liedhaft wie erzählerisch – würden eindrücklich vorführen, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt, so das Dezernat Kultur der Stadt Leipzig in seiner Mitteilung zur Preisträgerin 2023. "Mädchen ohne Kleider" ist im Mai 2022 im Verlag Suhrkamp erschienen. Die viel gelobte Übertragung aus dem Russischen hat Olga Radetzkaja unternommen. Die Jury verweist in ihrer Begründung auch auf den Lyrikband "Der Körper kehrt wieder" (2020) und den Roman "Nach dem Gedächtnis" (2020).
In der Begründung der Jury heißt es: "Den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023 erhält die russische Lyrikerin Maria Stepanova für die Unbedingtheit, mit der sie auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht. Unablösbar in der Gegenwart und in der russischen Sprache von Alexander Puschkin über Ossip Mandelstam bis Marina Zwetajewa verankert, ist ihr Werk zugleich ein Hallraum der Weltliteratur, in dem Dante, Goethe und Walt Whitman ebenso anwesend sind wie Ezra Pound, Inger Christensen und Anne Carson.
In ihrem Zyklus "Mädchen ohne Kleider" aus dem gleichnamigen Gedichtband nehme sie den weiblichen Körper in Schutz gegen das Machtgefälle zwischen Betrachter und Objekt. Spielerisch greife sie in der Gedichtreihe "Kleider ohne uns" auf den Formenkanon zurück und bette die Kleidung als Chiffre des Lebens in einen perfekten Sonettkranz ein. Ähnlich wie in ihrem grandiosen Roman "Nach dem Gedächtnis", der die eigene Familiengeschichte mit dem Rückblick auf den Stalinismus und den Zerfall der Sowjetunion verschränkt, betrete Stepanova im Zyklus "Bist du Luft" das Reich der Toten. "Ihr lyrisches Ich spricht in ein Grab hinein und verschmilzt mit der Kindheitslandschaft. In den Tiefenschichten lagern auch die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts und die Knochen der Gefallenen", so die Jury.
Und weiter: "Stepanovas Lyrik ist wie ihre Prosa und Essayistik Arbeit am Gedächtnis. Sie folgt den Spuren namenloser Toter, fördert das Unerzählte zutage, schlägt ironische Haken und widersetzt sich jeder Art von Parolen. Auch wenn Maria Stepanova in ihren Gedichten in den Abgrund schaut, bleibt ihre große Hoffnung die Sprache. Sie verhilft dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden."