Auf der Leipziger Buchmesse erhalten Sie den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Was kann Literatur, was speziell Ihre "Orbitor"-Trilogie, zur Verständigung zwischen den europäischen Nationen, Traditionen und Kulturen beitragen?
Die europäische Identität ist im Grunde eine kulturelle. Das ist der Grund dafür, weshalb die kulturellen Anstrengungen seiner Denker und Künstler so wichtig sind. Dem Bild von Europa mag die eine oder andere Industrie fehlen, aber nicht Bach oder Proust. Literatur, Film, Musik, bildende Kunst erzählen eine Menge über das Europa heute. Sie gehen über die Grenzen zwischen den Staaten hinaus und vermitteln das einzigartige Gefühl eines geeinten Kontinents. Ich denke, dass das wichtig ist, angesichts des gefährlichen Spiels, das an seiner Ostgrenze gespielt wird.
Die Trilogie trägt phantastische und surreale Züge, sie misst den "Raum zwischen Obszönität, Niedertracht und höchstem Ideal" aus, wie Sie einmal gesagt haben. Schafft Ihr narrativer Kosmos eine Wirklichkeit eigener Art? Und ist sie gleichzeitig eine Enzyklopädie des Körpers und der Sinne, des Reichs aller organischen – und auch aller geistigen Phänomene?
"Orbitor" ist meine größte innere Landkarte bisher, wenn Sie so wollen, meine "Alexanderschlacht" von Albrecht Altdorfer. Es stellt eine ganze Welt dar, von oben betrachtet, mit Tausenden von Figuren und Landschaften, mit zahlreichen Erzählsträngen. Es ist mein vollständiges Erbgut, das nach meinem Tod rekonstruiert werden könnte, mit all meinen Erinnerungen und meinem Innenleben.
Mircea, der Erzähler der "Orbitor"-Trilogie, treibt auf einem Ozean der Phantasie, aber wirft seinen Anker in historischen Grund: Band 3 erzählt die Geschichte der 89er-Revolution in Rumänien, Ceausescus Entmachtung und seine irgendwie bizarre Exekution durch ein Armee-Standgericht. Was hat sie daran interessiert: die historische Wende – oder mehr die unterschwelligen Nachwirkungen der Traumata, Phantasmen und Obsessionen?
In "Orbitor" ist Mircea ein Protagonist, der aufwächst: Im ersten Band ("Die Wissenden") ist er ein Kind, im zweiten ("Der Körper") ein Teenager, und im dritten wird er zum Heranwachsenden, der die Geschichte schließlich als Albtraum entdeckt. Er versucht sich dagegen zu verteidigen, indem er sich in das Wachs seiner Visionen und Phantasien einhüllt. Ihm offenbart sich, dass die Wirklichkeit nicht etwas ist, das sich von selbst versteht, sondern die komplexeste all unserer Halluzinationen. Und es ist wahr: 25 Jahre sind vergangen, seit Ceausescu die Macht verlor, und jetzt haben er und seine Epoche die Konsistenz eines unheimlichen, surrealistischen und grauenhaften Traums. Genau der, den ich in "Orbitor" vorgestellt habe.
Ist Ihr Roman "Die Flügel" zugleich eine Satire nach dem Vorbild von Jonathan Swift?
Das ist, glaube ich, offensichtlich. Das Buch ist mit all der kalten Wut eines Mannes geschrieben, dem seine Jugend gestohlen wurde. Die Gewaltherrschaft des Ceausescu-Clans hat dies wirklich getan. Ich war 33 Jahre alt, als die rumänische Revolution passierte. Bis dahin hatte ich in einer finsteren, hässlichen, elenden Welt gelebt. Ich konnte nicht ins Ausland reisen. Ich konnte nicht frei sprechen. Ich konnte keinen Platz in der Gesellschaft finden. Das einzige, was mir blieb, war zu schreiben, das heißt zu denken und sich etwas vorzustellen. Der dritte Teil von „Orbitor“ ist eine grelle und bittere Satire gegen das totalitäre Regime und zugleich gegen die gefälschte Revolution, die es beendete.
Einige Sequenzen und Bilder in Ihren Romanen zitieren Motive und Bilder aus der Mythologie. Ist unsere Gegenwart, die sich so rational gibt, im Kern mythologisch?
Wie alle menschlichen Kulturen sind wir für das Überleben auf Mythen und Archetypen angewiesen. Aber im Gegensatz zu anderen Kulturen hatten wir den wesentlichen Moment der Aufklärung, der nicht nur das mythische Denken zerstörte, sondern es auch von Wissenschaft, Staat und Bildung abtrennte. Wir haben Descartes in unseren Köpfen, aber bewahren immer noch die griechischen und jüdischen Mythologien in unseren Herzen – denn die Vernunft ist zwar cool (in beiden Bedeutungen), aber wir brauchen auch die Wärme, weil wir warmblütige Geschöpfe sind.
Ist Rumänien heute, inzwischen Mitglied der Europäischen Union, ein freies Land?
Rumänien ist heute ein freies Land, aber es hat eine Menge Probleme. Natürlich ist Korruption das wichtigste. Glücklicherweise scheint die Justiz jetzt autonomer und unvoreingenommener zu sein und beginnt langsam, zum ersten Mal in den vergangenen 25 Jahren ihre Pflicht zu erfüllen. Einige der wichtigsten Politiker und Geschäftsleute des letzten Jahrzehnts sitzen nun im Gefängnis, und es wird noch mehr dergleichen kommen.
Wo fühlen Sie sich als Schriftsteller heimisch?
Ich fühle mich da heimisch, wo meine Familie ist.
Interview: Michael Roesler-Graichen
Zur Person
Mircea Cărtărescu wurde 1956 in Bukarest geboren, begann 1978, erste Gedichte zu veröffentlichen, und schrieb seit Ende der 80er Jahre Prosa. Seit 1990 unterrichtet er an der Universität Bukarest rumänische Literaturgeschichte. Neben den Romanen "Nostalgia" (1997 / 2009) und "Travestie" (2010) erschienen von 2007 bis 2014 bei Zsolnay die Bände der "Orbitor"-Trilogie ("Die Wissenden", "Der Körper", "Die Flügel").
Preisverleihung
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird bei der Messeeröffnung am 11. März im Gewandhaus zu Leipzig überreicht; die Laudatio hält Uwe Tellkamp.