Auf der Leipziger Buchmesse

"Nie geht es um Daumen rauf oder runter": Beate Tröger erhält Kerr-Preis

27. März 2025
Redaktion Börsenblatt

Sie schafft es, die Vielschichtigkeit von Texten zu erschließen, offenbart eine unbeschwerte Lust an deren Sinnlichkeit und ist eine große Fürsprecherin von Lyrik: Die Kritikerin und Autorin Beate Tröger hat am 27. März den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik erhalten. Die Laudatorin lobte Trögers "intellektuellen Funkenschlag" und ihre "unverwüstliche Loyalität zur Literatur".

Urkundenübergabe zum Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2025 an Beate Tröger. Links Jurymitglied Michael Roesler-Graichen, rechts Börsenvereinsvorsteherin Katrin Schmidt-Friderichs

"Kritik ist keine Dienstleistung"

"Kritik ist Widerstand", zitierte Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs im bis auf den letzten Sitz- und Stehplatz gefüllten Forum "Die Unabhängigen" den Journalisten und Schriftsteller, nach dem die Auszeichnung benannt ist: Alfred Kerr. Ihr T-Shirt mit dem Schriftzug "Free Sansal" nahm Bezug auf ein wenige Stunden zuvor in Algerien ergangenes Gerichtsurteil, das fünf Jahre Haft für den 80-jährigen Schriftsteller und Friedenspreisträger Boualem Sansal vorsieht - wegen eines Interviews. Auch der Kerr-Preis, machte Schmidt-Friderichs deutlich, stehe für kritischen Journalismus und: . Ohne dieses Instrument ist keine Reflexion möglich." Sie ging in Leipzig auf die tagespolitischen Ereignisse ein, mahnte, dass Redaktionen nicht ihren Fakten-Check abschaffen dürften, "und ja, es braucht ein gesundes Misstrauen gegen das Marketinggebläse". Für Alfred Kerr sei es unabdingbar gewesen, "dem eigenen Urteil standzuhalten und nicht den Intentionen eines Autors oder Regisseurs auf den Leim zu gehen. 'Standhalter' soll man sein, und nicht 'Leimgeher'." Schmidt-Friderichs betonte die große Bedeutung von Literaturkritik in einer Zeit, in der das Vernunftideal der Aufklärung unter die Räder zu kommen drohe, denn diese reihe sich ein "in eine umfassende Kritik, die nicht nur kreative Prozesse bewertet, sondern auch zu gesellschaftlichen und politischen Vorgängen Stellung nimmt".

Börsenvereinsvorsteherin Katrin Schmidt-Friderichs trägt bei ihrem Grußwort ein T-Shirt mit einem Porträt des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal

Börsenvereinsvorsteherin Katrin Schmidt-Friderichs trägt ein T-Shirt mit einem Porträt des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal

"Nie geht es um Daumen rauf oder runter"

In ihrer Laudatio berichtete Katrin Schuster, Referentin der Direktion der Münchner Stadtbibliothek, über ihre intensive Telefonfreundschaft mit Beate Tröger, die bei gelungenen Wortspielen manchmal vor Lachen kaum weitersprechen könne: "Bei ihr kann man eine Lust am Text lernen". Schuster hob hervor, wodurch sich Trögers Kritiken, aber auch ihre Arbeit unter anderem als Moderatorin, Jurorin und Literaturvermittlerin auszeichnen: etwa ihre Hingabe ans Unvorhersehbare, eine Offenheit, die auf den intellektuellen Funkenschlag wette und immer gewinne, die Freude an Experimenten auf die Hermeneutik, eine unbeschwerte Lust an der Sinnlichkeit von Text. Dabei habe Tröger "eine unverwüstliche Loyalität zur Literatur" und eine "große, kluge Empathie für Lyrik", deren Fürsprecherin sie immer wieder sei. "Nie geht es um Daumen rauf oder runter, sondern darum, die Vielschichtigkeit der Texte zu erschließen." Der Preis würdige in diesem Jahr eine Leserin und Schreiberin, die "das schlichte Wissen umtreibt, dass jedes einzelne Wort und jeder Laut wichtig ist, im Leben wie in der Literatur."

"Wenn Reime sich regelrecht hineinbohren in Herz und Hirn"

Zum ersten Mal, so berichtete Beate Tröger den Zuhörerinnen, sei sie Alfred Kerr in einem Kinderbuch begegnet: in der Figur des Vaters, den seine Tochter Judith Kerr in ihrem Bestsellerroman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" beschrieb. Darin möchte die Protagonistin Anna Schriftstellerin werden, ermutigend befasst sich der Vater mit ihren Schreibversuchen und gibt ihr Tipps. "Etliche Kritiken Kerrs sind in Reimen verfasst, er liebte den Gleichklang der Wörter", erinnerte Tröger, die bekannte, auch aus alten Kirchenliedern viel über Sprache erfahren zu haben: "Die Reime darin waren akustische Haltegriffe." Sie formulierte, welche Kraft Verse haben können, "wenn Reime sich regelrecht hineinbohren in Herz und Hirn" und warnte zugleich: "Das kann auch eine Gefahr sein und zu Propagandazwecken missbraucht werden." In ihrer Dankesrede erklärte sie, dass sie Kritikerin geworden sei, weil sie sich die Freiheit des Schreibens und Denkens nie ganz habe nehmen lassen wollen. Es seien die Besonderheiten und Geschichten um die Gedichte, die sie immer wieder so faszinierten, dass sie "mit ihnen, mit den Möglichkeiten darüber zu sprechen, in Verbindung sein möchte. Es sind die Gedichte, aber auch die Geschichten der Menschen, die Welt als Sprache begreifen, oder durch Sprache begreifen möchten."

Die Auszeichnung

Mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik würdigt die Jury literaturkritisches Schaffen in den deutschsprachigen Medien. Die mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit dem Fachmagazin "Börsenblatt" des Technologie- und Informationsanbieters MVB vergeben und von der Klett-Stiftung gefördert.

Die Jurybegründung

"Über mehr als 20 Jahre hinweg hat sich Beate Tröger als Literaturkritikerin, Autorin, Literaturvermittlerin, Jurorin und Moderatorin im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht und sich besonders als Fürsprecherin zeitgenössischer Lyrik engagiert. Ihre Rezensionen in Presse und Funk decken ein weites Spektrum lyrischer Produktionen ab, und unter den besprochenen Dichterinnen und Dichtern sind viele, die dem deutschen Lesepublikum erstmals nähergebracht werden. Beate Trögers Kritiken zeichnen sich nicht nur durch sprachliche Sorgfalt und Stilsicherheit aus, sondern verstehen es auch, sich bei aller analytischen Distanz den besprochenen Gedichten anzunähern und deren Vielschichtigkeit und Reichtum im Dialog mit den Versen zu erschließen. Für die Lyrik, deren Bedeutung auf dem Buchmarkt nicht ausreichend gewürdigt wird, leistet Beate Trögers Arbeit einen essenziellen Beitrag."

Die Preisträgerin

Beate Tröger wurde 1973 in Selb/Oberfranken geboren und studierte in Berlin und Erlangen Germanistik, Anglistik, Theater-, Film und Fernsehwissenschaft. Ihr Studium schloss sie mit einer Magisterarbeit über Paul Celans Büchner-Preis-Rede ab. Sie ist freiberufliche Kritikerin und Autorin u.a. für Deutschlandfunk, SWR, WDR, "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Der Freitag", schreibt Features und publizierte Aufsätze u. a. zu Paul Celan, Peter Kurzeck und Friederike Mayröcker. Sie hatte Lehraufträge für Literaturkritik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und am Mediacampus Frankfurt inne. Sie ist zudem Beraterin und Moderatorin des Poet*innenfests Erlangen. Als Jurorin ist sie derzeit u. a. in der Vorjury für den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt, in der Jury für den Horst-Bienek-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und in der Vergabejury der Villa-Aurora-Stipendien tätig.

Die Jury

Sechs Expert:innen bestimmen jedes Jahr, wer den Preis erhält: Alexandra Pontzen (Literaturwissenschaftlerin Universität Duisburg-Essen), Klaus Reichert (Ehrenpräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung), Klaus Schöffling (früherer Verleger), Michael Roesler-Graichen (Börsenblatt), Lilly Ludwig (Buchhändlerin, im Vertrieb der Aufbau-Verlage tätig) und Thorsten Ahrend (Programmleiter und Geschäftsführer Literaturhaus Leipzig).