Unverwüstliche Loyalität zur Literatur
Katrin Schuster, Referentin der Direktion der Münchner Stadtbibliothek, hielt die Laudatio auf Beate Tröger, die mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet wurde.

Laudatorin Katrin Schuster
Katrin Schuster, Referentin der Direktion der Münchner Stadtbibliothek, hielt die Laudatio auf Beate Tröger, die mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet wurde.
Laudatorin Katrin Schuster
"Vor einer Woche hat – wie alle Jahre wieder – der Frühling angefangen, und mir scheint, dass wir alle die Hoffnung, die in dem Keimen und Austreiben und Wachsen liegt, gerade ziemlich gut gebrauchen können.
Paul Celan schrieb: „Es war Frühling, und die Bäume flogen zu ihren Vögeln.“
Paul Celan steht hier am Anfang, weil er mir als erster Schriftsteller in den Sinn kommt, wenn es um Beate Trögers Lesen und Schreiben geht, für das sie ja heute ausgezeichnet wird. Von diesem Autor war vor allem am Beginn unserer Freundschaft die Rede, ihre Magisterarbeit über Celans Büchnerpreis-Rede „Der Meridian“ war noch nicht lange her. Und der Ort, wo wir angefangen haben, ist ebenfalls ein literarisches Schwergewicht, nämlich Wolfenbüttel: ein Seminar über Literaturkritik, im Jahr 2007, Tilman Krause und Ijoma Mangold die Dozenten, und am Ende sagte sinngemäß einer von beiden über uns, die wir gerne Literaturkritikerinnen werden wollten: schreiben beide schöne Texte, aber die eine so blumig und die andere so nüchtern – die Mischung wär´s! Das haben wir uns nicht zweimal sagen lassen.
Und Paul Celan nimmt hier den Faden auf, weil mir andersherum beim Lesen dieses Satzes sofort und als erste Beate Tröger in den Sinn kommt. An Experimenten auf die Hermeneutik, am Vertauschen und Verdrehen von Buchstaben und Wörtern und sogar an manchem Schabernack mit der Sprache, hatte sie schon immer eine famose Freude.
Wir wohnen nicht in derselben Stadt und führen deshalb die meiste Zeit eine Telefonfreundschaft. Und kaum ein Gespräch, in dem sie nicht der Sprachspielerei frönte. Da zitiert sie – freilich aus dem Kopf – ein paar oder manchmal auch recht viele Verse von Jandl oder Ringelnatz, berichtet sie hocherfreut von Verhörern und Vertippern oder fabriziert aus dem Stand ein, zwei, drei Gemischte Doppel (Sie wissen schon, diese Rubrik im SZ-Magazin: Sprinterwitze – Winterspritze, Eisenmangel – Meisenangel, Bastknoten – Knastboten usw). Manchmal kann sie vor Lachen kaum weitersprechen, dann ringt sie um jede Silbe, und ihre Stimme defragmentiert den Text zu einer neuen Kenntlichkeit.
Das ist es, was man von Beate Tröger lernen kann: eine unbeschwerte Lust an der Sinnlichkeit von Text. So verstehe ich jedenfalls ihre große, kluge Empathie für Lyrik, der eine besondere Sensibilität für Stoffe (hier meine ich ausnahmsweise die gewebten, nicht die literarischen) und ein exquisiter Geruchssinn zur Seite stehen: Nie scheint der Körper in der Literatur gegenwärtiger zu sein als im Gedicht.
Dafür ist der Reim stets und zurecht das erstbeste Beispiel, weil im Moment des Gleichklangs Buchstaben zu Lauten und damit hörbar werden. Noch in den freiesten Rhythmen klingt immer die Stimme; noch jede Ornamentalität scheint sich nach Oralität zu sehnen. „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs“, heißt es bei Paul Celan.
An Experimenten auf die Hermeneutik, am Vertauschen und Verdrehen von Buchstaben und Wörtern und sogar an manchem Schabernack mit der Sprache, hatte sie schon immer eine famose Freude. Das ist es, was man von Beate Tröger lernen kann: eine unbeschwerte Lust an der Sinnlichkeit von Text.
Auch kein Zufall also: dass Natur, Kultur und alles, was sie trennt und was sie verbindet, Beate Trögers Lesen, Denken und Schreiben an- und umtreiben. Es ist ein fortgesetztes Wittern nach den Transgressionen: Was macht das Schwimmen mit dem Schreiben und umgekehrt? Diese Frage stellte sie in dem Radio-Feature „Im Wasser“, in dem die Autor:innen Kristine Bilkau, Marion Poschmann, Monika Rinck und John von Düffel im Gespräch mit Beate Tröger laut über ihr Schreiben und ihr Schwimmen nachdachten.
„1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh“ heißt Beate Trögers Aufsatz über ein nachgelassenes Prosagedicht von Friederike Mayröcker. In dessen letzter Strophe verkehrt sich das ewige Begehren zwischen Natur und Kultur auf ganz wundersame Weise: Das Ich wird von einer Hecke gestreift, und zwar absichtsvoll, kein Zweifel, denn es geschieht gleich zweimal. Das Unbewegte wird bewegt, das Objekt avanciert zum Subjekt, das Gestrüpp langt nach dem Leib.
Oder: Warum bringen ein paar Sätze einen Körper zum Lachen? Dem ging sie in ihrem Vortrag über die Komik in Peter Kurzecks Werk nach – was übrigens der zweite Name ist, der mir in den Sinn kommt, wenn es um die Literatur in Beate Trögers Leben geht. Als Peter Kurzeck 2013 starb, weinte nicht nur die passionierte Kurzeck-Leserin, sondern vor allem auch die Freundin. Eine solche in ihr gehabt zu haben, hat sich Peter Kurzeck vermutlich ähnlich glücklich geschätzt, wie ich das heute tun darf. Diejenigen unter Ihnen und euch, die Beate zur Freundin haben, wissen, was ich meine: Immer ist es sie, die sich meldet; immer ist es sie, die die Zweifel ausräumt; immer ist es sie, die die andere Meinung großzügiger akzeptiert. Noch mehr bewundere ich, dass sie diese unverwüstliche Loyalität auch der Literatur zukommen lässt.
So lese ich auch die Worte der Jury, die Beate Tröger eine „Fürsprecherin zeitgenössischer Lyrik“ nennt. Es steckt aber noch etwas anderes, in dieser Bezeichnung, das ich ähnlich treffend finde – das Sprechen nämlich. Das war am Anfang ihres Berufslebens eher nebensächlich, wuchs aber bald ins Zentrum: der ersten Moderation folgten weitere, dem ersten Vortrag und dem ersten Uni-Seminar ebenso. Dann schließlich auch im Radio – und vielleicht war da sogar ein wenig Eifersucht, dass ihre Stimme nun ins ganze Land übertragen wurde, statt nur für mich durch die Telefonleitung zu klingen.
Tatsächlich scheint es mir von seltener Konsequenz – auch wenn sich das nachher freilich immer leicht sagt –, dass Beate Trögers Karriere genau diesen Weg genommen hat, ihre Stimme immer öfter und immer weitreichender zu hören war, seit 2017 etwa im Lyrik-Gespräch im Deutschlandfunk mit Insa Wilke und Michael Braun – um die beiden für sie wichtigsten Kolleg:innen dort zu nennen – und als Rezensentin noch bei einigen anderen Sendern.
Im Schreiben ist man – was zweifellos auch seine Vorteile hat – immer allein; wer den Text wann und wie wahrnehmen wird, lässt sich ahnen und hoffen, nie wissen und nur äußerst selten beobachten. Im Sprechen dagegen trägt man das ganze Risiko der manchmal gnadenlosen Gegenwart.
Von Versprechern und Blackouts über unglücklich formulierte Fragen bis hin zu widerspenstigen oder maulfaulen Gesprächspartnern: Live ist live, und eben das ist ja dessen größte Qualität: dass man dem Leben da nicht ausweichen kann und jeder Zufall zur Notwendigkeit gerinnt.
Von ihrer Offenheit im Dialog, die auf den intellektuellen Funkenschlag wettet und eigentlich immer gewinnt, zeugen auch ihre Texte.
Es ist immer ein Wagnis, sich in den Dialog mit einem oder mehreren Gegenübern zu begeben, weil man nur das eigene Sprechen im Griff haben kann; jede noch so sauber skizzierte Moderation muss alle Unwägbarkeiten abwägen und weiß doch zugleich, dass manche Missverständnisse die Fähigkeit haben, das Gegenüber auf noch klügere Gedanken zu bringen und dass gerade die Abwege durchs wildeste Unterholz und auf die hellsten Lichtungen führen können. Dass Beate Tröger seit 2023 zum Moderationsteam des Erlanger Poetenfests gehört und nun also auch noch unter freiem Himmel spricht, beweist mir nur ein weiteres Mal ihre Hingabe ans Unvorhersehbare und ihr Talent für den Kairos.
Von dieser Offenheit, die auf den intellektuellen Funkenschlag wettet und eigentlich immer gewinnt, zeugen auch ihre Texte. Die Jury nennt es „sprachliche Sorgfalt“ und „analytische Distanz“; ich hänge es mal ein bisschen höher: Beate Trögers Rezensionen zeichnen sich durch die Ernsthaftigkeit aus, mit der sie der Literatur gerecht werden wollen. Nie geht es bei ihr um Daumen-Rauf, Daumen-Runter, sondern immer – da bin ich wieder ganz bei der Jury – darum, sich den Texten „anzunähern und deren Vielschichtigkeit und Reichtum im Dialog […] zu erschließen“.
Allerdings folgt darauf in der Jurybegründung eine Feststellung, die vermutlich nicht nur ich, sondern alle hier im Raum so oder so ähnlich dort erwartet hatten: Das ist er mal wieder, der Allgemeinplatz, dass die Bedeutung der Lyrik „auf dem Buchmarkt nicht ausreichend gewürdigt wird“.
Ich weiß nicht, ob das falsch oder richtig ist. Aber ich frage mich natürlich: Warum macht der Buchmarkt das denn, die Lyrik nicht ausreichend würdigen? Hat die Lyrik es nicht verdient oder verdient der Buchmarkt an der Lyrik nicht genug?
Ich will diese Laudatio nicht für eine Fastenpredigt missbrauchen, keine Sorge, aber Ihnen doch kurz ein wenig zu nahe oder gar auf die Füße treten. Ich arbeite in einer öffentlichen Bibliothek und weiß, dass die Literatur- und Kulturvermittlung kein einfaches Geschäft ist. Nur: Wer es allein für die Marge betreibt, der macht sich bald überflüssig, denn das kann Künstliche Intelligenz dank ihrer umfassenden Unmenschlichkeit einfach besser. Oder anders gesagt: Wer Literatur in Quantitäten misst, der darf sich nicht wundern, wenn die Menschen das Lesen verlernen oder es ihnen irgendwann vergeht.
Und das können wir uns meiner Meinung nach nicht mehr leisten. Wir alle wissen sehr gut, dass die Sprache zur Waffe taugt und mit populistischer Selbstverständlichkeit immer häufiger auch als solche verwendet wird. Deshalb braucht es jetzt und in Zukunft ein bisschen mehr menschliche Intelligenz: damit wir erkennen und handeln, wenn der Sprache Unrecht getan wird. Und auch das kann man, neben der Lust und der Gerechtigkeit am Text, von Beate Tröger lernen: das gute und das genaue Hinhören. Sie treibt ganz sicher nicht das Mitleid mit dem angeblichen Stiefkind der Branche um, sondern das schlichte Wissen, dass jedes einzelne Wort und jeder Laut zählt, im Leben wie in der Literatur. Und darüber denkt am klarsten und lautesten nunmal die Lyrik nach.
Noch ein viertes will ich nennen, wo sie mir Vorbild ist, und das ich fast als die größte Kunst bezeichnen will: das Vermitteln. Auch hinter den Kulissen hat Beate Tröger glücklicherweise ihre Finger im Spiel: Sie ist Mitglied in über einem halben Dutzend Jurys, Autorin auch für Literatur-Lexika und gestaltet als Redakteurin Inhalte, Strukturen und Kontexte. Noch die Tatsache, dass sie besonders Autorinnen gut im Blick hat, will ich ihrem Ethos der Vermittlung ankreiden.
All das kulminiert im besten Sinne im Herausgeben. Für die Anthologie „Fee Nummer 13“ hat Beate Tröger Autor:innen um Gedichte gebeten, um Gedichte, die in einen Dialog mit einem Text treten, dem Märchen „Dornröschen“ der Gebrüder Grimm. Es wurden dann nicht nur Gedichte, weil, wie sie in ihrem Vorwort schreibt, klar wurde, „dass es sinnvoller sein würde, keine Gattungsbeschränkung auszusprechen“ – das ist sie wieder, diese faktisch nicht zu rechtfertigende Gewissheit, dass sich alles auf gute und richtige Weise fügen wird. Und die 13. Fee stellt natürlich selbst jenen Einbruch der widerständigen, nicht selten: weiblichen Wirklichkeit in die Literatur dar, um den es Beate Tröger immer geht.
Ich muss nun auch mit Paul Celan enden, was – Sie ahnen es – einem schönen Zufall geschuldet ist. Nachdem ich das Zitat mit den Bäumen, die zu ihren Vögeln fliegen, endlich gefunden hatte, traf ich auf der nächsten Seite erneut auf einen Baum. Oder besser: auf den Traum vom Baum. Es ist, am Anfang zumindest, keine frohgemute Geschichte, weshalb ich sie so kurz als möglich nacherzähle: Es geht um eine Hinrichtung und um einen längeren Moment, in dem das Publikum die Augen gesenkt hält. Am Ende redet ausgerechnet die groteske Hybris eines buchstäblichen Tot-Holzes der unmöglichsten aller Hoffnungen das Wort:
„Der Galgen aber hielt sich in dieser Minute für einen Baum, und da niemand die Augen offen hatte, ist es nicht möglich, festzustellen, ob er es nicht auch in der Tat gewesen ist.“
Mit dieser Hoffnung – dass mancher Galgen sich wenigstens ab und an für einen Baum und damit sogar recht haben könnte – will ich enden, weil dieses unverbrüchliche Vertrauen in die Literatur auch Beate Trögers Texte auszeichnet.
Und endlich wird sie dafür auch selbst ausgezeichnet: Liebe Beate, ich gratuliere dir von Herzen zum Alfred-Kerr-Preis 2025."
Mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik würdigt die Jury literaturkritisches Schaffen in den deutschsprachigen Medien. Die mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit dem Fachmagazin "Börsenblatt" des Technologie- und Informationsanbieters MVB vergeben und von der Klett-Stiftung gefördert.