BookTok: Interview mit Volker Weidermann

Keine Angst sich zu blamieren

7. November 2024
Sabine van Endert

Volker Weidermann war Juror der TikTok Book Awards und ist dort mit eigenen Videos aktiv. Warum sich der Literaturkritiker auf der Plattform so wohlfühlt und welche New-Adult-Tipps er gibt, lesen Sie im Interview.

Volker Weidermann im Gespräch mit Börsenblattredakteurin Sabine van Endert.

Offensichtlich freuen Sie sich über neue Leseerfahrungen, zum Beispiel über Erkenntnisse zum Thema Sex zwischen Werwolf und Vampir. Das hat mich zum Lachen gebracht.

Ich musste beim Lesen von Ali Hazelwoods Romantasy "Bride" auch lachen.

"Icebreaker" von Hannah Grace haben Sie komplett zerrissen. Sie warnen vor dem Buch.

Meine Empörung ist authentisch, das können Sie mir glauben. Das Buch ist extrem populär, bei den Buchausgaben für den KulturPass steht dieser Titel ganz oben. Ich bin als Literaturkritiker kein Moralist, Literatur ist frei, aber das ist brutaler Frauenunterwerfungssex, bonbonfarben verpackt. Richtig schlimm und nebenbei auch sprachlich Müll.

Wie reagieren die BookToker, wenn Sie ihr Lieblingsbuch so behandeln?

"Das geht dich nichts an, das verstehst du nicht, das Buch wurde nicht für dich geschrieben" – das war der Tenor der Reaktionen. Aber natürlich urteile ich auch jenseits der Tatsache, ob ich 16 bin und ein Mädchen. Ich erwarte Qualität, Grundmoral und Werthaltigkeit, und diesen Anspruch werde ich mir auch von kritischen Kommentaren nicht nehmen lassen. Im Kern hat die Community aber recht: Ich hätte das Buch nie freiwillig gelesen und es ist in dem Sinne auch nicht für mich geschrieben. Trotzdem habe ich eine Meinung dazu. 
 

Sie dürften einer der wenigen Männer über 50 sein, der New Adult tatsächlich liest.

Natürlich, ich möchte meinen Job auch an dieser Stelle ernst nehmen. Und nebenbei: Die Videos werden von sehr vielen Menschen angeschaut, die die Bücher genau gelesen haben. Das kann schnell peinlich werden. 
 

Wie kam es zu Ihrem BookTok-Engagement?

Viele aus der Community haben sich mich als Juror gewünscht. Dass "Die Zeit" auf BookTok aktiv wird, war eine Anregung von Jochen Wegner, Chefredakteur von "Zeit online" und Mitglied der Chefredaktion der "Zeit". Er fragte mich, ob ich Angst davor hätte, mich mal so richtig zu blamieren. Hatte ich nicht.

Ihr Vorgänger Denis Scheck hat bei der Premiere des Awards eher Buchhandelslieblinge ausgewählt, bei Ihnen mussten viele die Autorinnen googeln.

Mein Einfluss ist überschaubar. Ich habe eine Vorauswahl von 20 Titeln bekommen und daraus vier Titel ausgewählt; den Rest entscheidet die Community. Juror ist da ein großes Wort, ich bin eher eine Art Zwischen­instanz. Allerdings: Sebastian Fitzek oder Juli Zeh auf eine solche Liste zu wählen, das hätte für mich keinen Sinn ergeben. 
 

Lassen sich Ihre BookTok-Lesefrüchte in der "Zeit" zweitverwerten?

Warum nicht? Ich empfinde auch BookTok nicht als Einbahnstraße, ich erfahre dort etwas über New-Adult-Bücher, aber ich möchte den Menschen dort auch gern das vorstellen, was ich als "meine" Literatur betrachte. Das schauen dann zwar nur wenige an, aber das kann sich entwickeln. 
 

Haben Sie das schon probiert?

Ja, zum Beispiel mit "Ein schönes Ausländerkind" von Toxische Pommes und mit "Headshot" von Rita Bullwinkel – das sind schon Bücher, die BookTok-kompatibel sind. Diese Videos schauen sich vielleicht 15.000 Menschen an, die beiden "Icebreaker"-Videos wurden 1,1 Millionen Mal gesehen. Aber ich arbeite daran. Die Abi-Reihe, in der wir Bücher besprechen, die Schülerinnen und Schüler für ihre Abiturprüfungen lesen müssen, funktioniert übrigens sehr gut. Beiträge, in denen wir also Büchners "Woyzeck" oder Juli Zeh vorstellen, schauen 500.000 Leute. Das macht mir große Freude, weil ich hier aus den Tiefen meines Wissens schöpfen kann. 

Hat sich Ihr Lesepensum über BookTok jetzt extrem erhöht? Den Rest der Literatur lassen Sie ja nicht liegen.

Nein, dafür habe ich genug Zeit und Begeisterung. Das Pensum hat sich vielleicht erhöht, aber zwischen den Literaturformen gibt es große Qualitätsunterschiede, und New Adult liest man in anderer Geschwindigkeit.

Josi Wismar, Gewinnerin des BookTok Awards, wurde auf einem Messepodium gefragt, wie lange sie an ihren Büchern „Wandering Hearts“ und „Wildest Dreams“ gearbeitet habe. Ihre Antwort: drei Wochen beziehungsweise zwei Monate.

Das ist schon tollkühn und auch sehr ehrlich, oder vielleicht auch naiv, das öffentlich zu sagen. Diese Bücher sind leicht, sie sind leicht zu lesen und man ist glücklich, wenn sie auch leicht zu schreiben sind. Josi Wismar liest und empfiehlt Bücher, sie schreibt Romane und sie hat Buchwissenschaft studiert. Ich habe ihre sehr interessante Masterarbeit gelesen, in der sie unter anderem das Sprechen über Bücher vom Literarischen Quartett über die Jahre vergleicht. Das finde ich alles sehr beachtlich.

Volker Weidermann und Josi Wismar. Der "Zeit"-Literaturkorrespondent Weidermann ist in der Jury für den TikTok Book Award, Josi Wismar hat ihn in der Kategorie BookTok-Autorin des Jahres gewonnen.

Was gefällt Ihnen an den Literatur­gesprächen bei BookTok?

Jenseits von allen Qualitätsansprüchen, die wir an Literatur stellen – und die eben nicht immer dem Anspruch der New-Adult-Autorinnen und -Leser entsprechen –, bin ich geradezu euphorisiert von dem intensiven literarischen Gespräch in der Community. Was mich auf altmodische Art rührt, ist die Liebe, zum einen zur Geschichte und dann auch zum gedruckten Buch, das man am liebsten in einer kleinen Buchhandlung kauft. Auch die Gestaltung von Büchern wird wertgeschätzt. Ich bin kein Fan von Farbschnitten, aber ich kann die Freude an der Gestaltung nachvollziehen. Auch ich liebe Bücher unter anderem wegen ihrer Schönheit. Dass das alles in dieser für mich fremden, etwas heiteren Form wiederkommt, ist unglaublich.
 

Was mich auf altmodische Art rührt, ist die Liebe zur Geschichte.

Volker Weidermann

Intensives Gespräch? Geht es in den BookTok-Videos nicht überwiegend um überschwängliches Lob und die eigene Leseempfindung?

Stimmt. Einer oder eine spricht, viele andere stimmen zu oder auch nicht – das ist vielleicht noch kein Gespräch. Was ich immer liebe, wenn über Bücher gesprochen wird, und hier eben auch: Man spricht, wenn man über Geschichten redet, über sich selbst. Und ja, manche sagen, ich musste weinen, aber viele sagen auch, warum sie weinen mussten, was die Geschichte mit ihnen zu tun hat, was sie in ihnen ausgelöst hat. Das hat schon etwas Therapeutisches, etwas Heilendes. Und genau das ist für mich immer schon Teil des Wertes von Literatur gewesen
 

Und zum Schluss: zwei Romance-Empfehlungen bitte, und zwei Warnungen.

"Hazel Wood" von Melissa Albert, die Autorin arbeitet in einem wahnsinnig seriösen Beruf, sie ist Neurochirurgin, die aber eben auch Werwolf- und Campus-­Romane schreibt. Von Melissa Albert kann ich alles empfehlen. Aber auch "Fourth Wing" fand ich richtig gut. Vor den Büchern von Hanna Grace möchte ich dagegen noch mal ausdrücklich warnen, "Icebreaker" ist ja eine ganze Serie. Da bleibe ich bei meiner Meinung. 

Sabine van Endert, stellvertretende Chefredakteurin des Börsenblatts, im Interview mit Volker Weidermann auf der Frankfurter Buchmesse 2024.