Diktatur der Eulen
In der Kreativbranche sind sie in der Überzahl: Menschen, die erst abends und nachts so richtig produktiv werden. Darüber dürfen die Lerchen aber nicht vergessen werden, meint unsere Kolumnistin Veronika Weiss.
In der Kreativbranche sind sie in der Überzahl: Menschen, die erst abends und nachts so richtig produktiv werden. Darüber dürfen die Lerchen aber nicht vergessen werden, meint unsere Kolumnistin Veronika Weiss.
Morgens, 20 vor neun: Ich habe bereits ein aufwendiges To-do erledigt, sitze seit halb sieben am Schreibtisch. Das ist meine Zeit: Vor zehn ruft niemand an, da habe ich meine Ruhe. Ich bin frisch im Kopf, konzentriert und motiviert, mich komplexeren Themen zu widmen. Diese ersten Stunden des Arbeitstags vergehen schnell und produktiv, sie machen mich schon zufrieden mit dem Tageswerk. Sie sind mein Geheimwerkzeug für selbstbewusstes Arbeiten.
Nach vier oder fünf Uhr nachmittags schaffe ich allerdings kaum noch etwas. Das ist so als Lerche. Die inneren Uhren von Eulen ticken ganz anders: Die kommen vormittags nur langsam in die Gänge und werden nachmittags aktiv, haben ihre produktivste Zeit abends.
Wann wir besonders leistungsfähig sind, ist genetisch bedingt und hängt mit der persönlichen Temperaturkurve und dem Melatoninspiegel zusammen. Da das nur bedingt an das Umfeld angepasst werden kann, entsteht so oft ein sogenannter sozialer Jetlag. Frühaufsteher sind angeblich gesellschaftlich anerkannter, denn Schul- und Bürozeiten sind für Lerchen gemacht. Für mich sind acht oder neun Uhr völlig normale Zeiten, aber offenbar gehöre ich zum Typ »extremer Frühaufsteher«.
Es gibt allgemein mehr Eulen als Lerchen. Die Literatur- und Kulturbranche zieht sie an, scheint mir, mit Veranstaltungen, Lesungen, Konzerten in den Abend- und Nachtstunden. Hier passen Eulen hin, fühlen sich unter ihresgleichen sicher, hier outen sie sich. Vor zehn oder halb elf Uhr vormittags, sagen manche, »sei einfach nicht ihre Zeit«. Das klingt cool, da lässt man sich auch mal treiben, da gelingt vieles scheinbar von ganz allein, da blüht die Kreativität. Da sind ausufernde Meetings in den Abendstunden kein Problem, und eine nächtliche Manuskriptprüfung fällt leicht oder ist zumindest machbar.
Im Gegensatz dazu fühle ich mich als früher Vogel manchmal fehl am Platz: streberhaft, zu selbstdiszipliniert, unkreativ, streng. Früh viel zu schaffen, ist einfach nicht schick, schon gar nicht in einem kreativen Berufsumfeld. Um 16 Uhr (endlich!) den Stift fallen zu lassen, sieht oft nicht gut aus und kann im Büro unangebrachte Kommentare provozieren.
Ich möchte festhalten: Unterschiedliche Tagesrhythmen und Arbeitstypen sind positiv, ganz im Sinne der Diversity! Flexiblere Arbeitszeiten durch die Entwicklungen im Corona-Umfeld kommen der Vielfalt entgegen. Und Meetings werden anständigerweise zwischen zehn und 17 Uhr anberaumt. In der Beachtung der Chronotypen steckt allerdings noch mehr Potenzial: Mit etwas Aufmerksamkeit erkennt man, welcher Arbeitstyp das Gegenüber ist. Warum richten wir uns nicht mal danach? Wenn jemand abends und nachts gern und gut schreibt, kann ein zweiter Blick in den frühen Morgenstunden einen echten Zeitgewinn bedeuten. Eine erfolgreiche Besprechung um 19 oder 20 Uhr ist in einer munteren Eulenrunde möglich. Und vielleicht kann ich ja mal ein Onlinemeeting für sieben Uhr ansetzen, ohne für verrückt erklärt zu werden … Das würde mir entsprechen und Spaß machen.