Kiew gehört seinen Einwohnern, auch wenn viele Touristen unterwegs sind. Doch bis auf mich sind alle Ukrainer:innen. Die Männer tragen kurze Hosen, die Frauen Sommerkleider. Ich verfluche meine lange Hose und beobachte die Soldaten, die auf Heimaturlaub sind. Mit ihren Familien spazieren sie durch Kiew. Viele sind in meinem Alter, sie scherzen mit ihren Kindern und wenden sich doch hin und wieder ab. Dann verliert sich ihr Blick in der Ferne. Ob sie an schlimme Erlebnisse denken? Ich würde sie gern fragen, aber wie sollte man solch ein Gespräch beginnen?
Diejenigen allerdings, mit denen ich spreche und die sich trauen, mich zu fragen, was ich hier mache, strahlen, wenn ich Zhadan erwähne. »He is like a king«, sagt der junge Kellner im Kompot, einem Restaurant mit Spezialitäten aus Odessa, das direkt am Fluss liegt. Weil ich seinen Helden Zhadan kenne, geht der Kaffee aufs Haus.
Ich freue mich darüber, wie sich alle freuen, dass er den Friedenspreis erhält, auch wenn es umständlich ist, die Bedeutung dieses Preises zu erklären (»Aber wir sind doch im Krieg?«). Noch mehr jedoch faszinieren mich ihre eigenen Geschichten. Wahrscheinlich erzählt man sich untereinander kaum noch die persönlichen Tragödien. Aber einem neugierigen Deutschen öffnet man sein Herz.
Der Mann an der Hotelrezeption ist vor acht Jahren aus dem Donbass geflohen. Bis Februar hat er trotzdem regelmäßig seine Familie dort besucht – »18 Stunden Zugfahrt«, was ich natürlich mit einem Lächeln toppe. Als er berichtet, dass er mit seinen Eltern jetzt nur noch über schlechte Skype-Verbindungen Kontakt halten kann und sie dabei immer weinen, werde ich still.
Die beiden Frauen, die ebenso vergeblich wie ich an einem Kontrollposten um Durchlass bitten, um sich im gesperrten Regierungsviertel das berühmte Haus mit Chimären anzuschauen, kommen aus der Westukraine. »Von wegen ruhig«, lacht mich eine von ihnen aus, »bei uns schlagen mehr Raketen ein als hier. In Kiew steht die beste Luftabwehr.« Und deswegen machen sie hier Urlaub.
Und dann begegne ich Peter – geboren im Osten Sibiriens, Mutter Polin, Vater Rumäne, der Großvater hat die Konzentrationslager überlebt und eine Deutsche geheiratet. Peters Familiengeschichte ist verwirrend und führt um die ganze Welt. Er hat die polnische und rumänische Staatsangehörigkeit und hat zwei Jahre in Belgien Musik studiert. Überall könne er leben, beim Onkel in Atlanta oder beim Bruder in Erkelenz, doch er bleibt, weil er sich in der Ukraine mit ihrer Vielfalt an Kulturen am wohlsten fühle. Es sei so ganz anders als sein Geburtsland Russland. »Dort höre ich immer nur Blut. Blut und Vaterland. Die Ukrainer hingegen tragen ihr Herz auf der Zunge.«
Abends auf dem Balkon lese ich meine Notizen durch. Vieles, was ich erlebt habe, lasse ich weg – die zerstörten russischen Panzer, ausgestellt auf einem Platz nahe des Maidan, das Stadion von Dynamo Kiew, das im Sperrbezirk liegt und nicht bespielt werden kann, die jungen Street Dancer, umringt von Hunderten von Schaulustigen. In solchen Momenten habe ich mit den anderen gelacht, gestaunt, fotografiert und gemerkt, wie diese Menschen zu einer großen Solidaritätsgemeinschaft geworden sind. Der zu uns nach Deutschland getragene Nationalismus in der Ukraine hat mich wie viele andere etwas verstört. Hier in Kiew aber merke ich, dass er von unten kommt und nicht von oben vorgegeben wird.
Seit die Regierung das Kriegsrecht ausgerufen hat, sind Demonstrationen verboten, zu keiner Zeit aber habe ich bemerkt, dass die Demokratie in Gefahr ist, die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Der Krieg eint die Menschen, und merkwürdigerweise ziehen sie aus ihm zugleich die Hoffnung, dass alles gut wird.