Zwei Männer aus Charkiw
Vor einer Friedenspreisverleihung gibt es vieles zu besprechen – deshalb ist Martin Schult in die Ukraine gefahren, zu Preisträger Serhij Zhadan. Reisenotizen aus einem Land in Kriegszeiten.
Vor einer Friedenspreisverleihung gibt es vieles zu besprechen – deshalb ist Martin Schult in die Ukraine gefahren, zu Preisträger Serhij Zhadan. Reisenotizen aus einem Land in Kriegszeiten.
Was trägt man in einem Land, das sich im Krieg befindet? Das frage ich mich, während ich vor dem Kleiderschrank stehe und überlege, ob ich eine kurze Hose mitnehmen soll. Denn Sommer und Krieg – das will nicht recht zusammenpassen. Ich packe sie trotzdem ein und finde es lächerlich, dass ich überhaupt darüber nachdenke.
Alle, denen ich erzählt habe, dass ich heute morgen nach Kiew fahre, haben erst einmal geschluckt. »Ist das nicht zu gefährlich?« – »Pass auf dich auf.« – »Bleib lieber hier.« Noch vor einem Jahr hätten sie eine Reise dorthin nicht weiter kommentiert, jetzt aber hört es sich gefährlich an. Mein Versuch, es zu relativieren, ist vor allem an mich selbst gerichtet: Millionen Ukrainer:innen sind schließlich in ihrem Land unterwegs. Sie flüchten von dort, sie reisen wieder zurück, sie organisieren Hilfstransporte, und sicherlich machen einige auch Urlaub.
Aber was die Kriegserfahrung betrifft, da haben sie mir gegenüber sechs Monate Vorsprung. Das erinnert mich an Serhij Zhadans Roman »Internat«, in dem die Hauptfigur Pascha einem windigen Journalisten begegnet:
»Er ist um die fünfzig, behandelt Pascha entsprechend wie einen Rangniedrigeren. So behandeln Passagiere, die vom Startbahnhof an dabei sind, die Zugestiegenen. Zwar verfügen alle über eine Fahrkarte, aber die schon im Abteil verbrachten Stunden verleihen einen unbegreiflichen Vorrang.«
Ihn, Serhij Zhadan, will ich besuchen. Weil man nicht fliegen kann und es mit dem Auto zu weit ist, fahre ich mit dem Zug. Nach 24 Stunden werde ich Kiew erreichen – mit einer kurzen Hose im Rucksack.
Alle, denen ich erzählt habe, dass ich nach Kiew fahre, haben erst einmal geschluckt. ›Ist das nicht zu gefährlich?‹
Martin Schult, Friedenspreisreferent des Börsenvereins
Ein Rollkoffer wäre praktischer, aber auch hierüber findet sich etwas in seinem Buch:
»Die Frauen können kaum Schritt halten. Besonders schwer fällt es der Blondine. Sie zieht ihren Koffer, der über die Steine hüpft und dauernd umkippt, zieht ihn wie einen Anker hinter sich her, kann nicht von ihm lassen.«
Sich an Fiktion zu orientieren, ist vielleicht genauso lächerlich wie meine Sorgen bezüglich der Hosenlänge. Aber ich bin noch nie in einem Land gewesen, das sich im Krieg befindet, das unter Bombardierungen aus der Luft leidet, in dem aktuell das größte Kernkraftwerk Europas beschossen wird.
»Morgenkälte in der Küche, bleiernes Morgengrauen vor dem Fenster. Pascha tritt an den Herd und spürt den süßlichen Gasgeruch. Er assoziiert ihn immer mit munterem morgendlichem Erwachen.«
Pascha kocht Tee, ich koche Kaffee und denke auch ans süße Gas, das in diesem Krieg eine so wichtige Rolle spielt. Vor ein paar Tagen trat der EU-weite Gas-Notfallplan in Kraft. Gleichzeitig werden die Rufe nach Einstellung der Kampfhandlungen lauter. Das russische Gas muss weiterfließen, heißt es bei vielen, damit wir nicht frieren und es nicht zu teuer wird. Seit 1945 hat kein Krieg solche Auswirkungen auf das Leben und das Denken in Deutschland gehabt wie dieser – aber das liegt natürlich nicht nur am Gas. Es ist nur zum Synonym geworden für all das, was unseren Alltag erschwert, obwohl der – verglichen mit dem in der Ukraine – nicht annähernd so dramatisch ist.
In den vergangenen Jahren hat es sich bewährt, die Friedenspreisträger:innen persönlich zu treffen, Details zu besprechen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Ich muss mich auf sie verlassen können – so wie sie sich auf mich. 2021 hat Corona meine Reise nach Zimbabwe verhindert. Zum Glück konnte Tsitsi Dangarembga frühzeitig nach Deutschland kommen. Dieses Jahr hat sich zum Virus noch der Krieg gesellt. Ukrainische Männer unter 60 dürfen nicht ohne Weiteres ausreisen. Zum Glück aber können deutsche Männer unter 60 einreisen.
In zwei Stunden, um 10.39 Uhr, fährt der Zug in Berlin ab. Um 21.05 Uhr komme ich in Przemyśl an der Grenze zur Ukraine an. Auf dieser Etappe werden wir im Halbstundentakt an 22 Bahnhöfen halten – etwa in Frankfurt (Oder), Wroclaw, Opole, Katowice, Kraków. Es sind Städte, die ich bis auf Kraków nur aus Geschichtsbüchern kenne. So reist also auch die Vergangenheit mit. Ich kann nicht anders. Aus der Verantwortung für die Verbrechen der Nazis bin ich mit einem »Nie wieder Krieg!« aufgewachsen und muss jetzt angesichts der Realität nicht nur physische Grenzen überwinden. Zum Bahnhof nehme ich die Tram.
Nachdem wir die Oder überquert haben, wurde die Klimaanlage auf volle Leistung gestellt. Die Frau am Fahrkartenschalter hat mir den letzten freien Sitzplatz reserviert. Bislang aber begleiten mich nur mehrere alte Männer, einige ältere polnische Frauen und zwei jüngere Ukrainerinnen mit Kindern. Während draußen die Luft vor Hitze flirrt, wird es im Zug immer kälter.
Sofern man das bei einem Buch, das den Krieg zum Thema hat, überhaupt sagen kann, habe ich in Zhadans Roman »Internat«, der von einer gefahrvollen Reise durch das Kriegsgebiet im Donbass erzählt, eine Lieblingsstelle. Pascha bahnt sich darin den Weg durch eine schlafende Menschenmenge, die in einem Bahnhof Schutz gefunden hat. Und auch ich genieße die nächtliche Ruhe in diesem Bahnhofsgebäude, weil ich befürchte, dass Zhadan auf den nächsten Seiten wieder Ereignisse schildern wird, die mir das Blut gefrieren lassen. Dann lese ich das:
»Jemand flüstert in der Ecke, jemand zieht sich die Decke über den Kopf. Dunkel, nur von draußen leuchten die mächtigen Scheinwerfer eines Lastwagens herein und heben aus der Dämmerung die Frauengesichter hellblau hervor. Überhaupt erinnert das alles an ein Theater vor Beginn der Vorstellung: Das Licht ist schon erloschen, alle sind verstummt, nur irgendwo versucht noch jemand, zu Ende zu reden, das Wichtigste zu Ende zu flüstern.«
Eigentlich mag ich keine Vergleiche. Formulierungen wie »als würde« oder »so wie« sind mir in der Literatur geradezu verhasst. Es raubt mir die Fantasie, wenn der Autor oder die Autorin versucht, mir die eigene aufzudrängen. Hier aber funktioniert es. Der Bahnhof, das Versteck vor der Gewalt auf der Straße, setzt Zhadan einem Theater gleich, in dem in einigen Augenblicken der Vorhang aufgeht, zuvor aber noch unbedingt etwas mitgeteilt werden muss.
Das folgende Kapitel, der dritte Tag von Paschas Odyssee durch den Krieg, wird somit zu einer Inszenierung, zu einer bösartigen und tödlichen Inszenierung, die zu lesen ich durch diese harmlosen Sätze aber ertragen kann. Zhadan hat mir die Freiheit gegeben, es als Theaterstück zu lesen. Jemand anderes wird es sicher anders interpretieren. Ich jedoch bin ihm dankbar, dass er mir dadurch erlaubt, wieder einen Schritt zurückzutreten und zum Leser zu werden.
Gegen Mitternacht und mit zwei Stunden Verspätung erreichen wir Przemyśl. Ich fahre Erster Klasse, deswegen wusste ich nicht, wie voll die Zweite ist. Etwa 1 000 Menschen wandern vom polnischen Teil des Bahnhofs zum ukrainischen. Dort bildet sich vor der polnischen Grenzkontrolle eine lange Schlange – vor allem mit Frauen und Kindern, doch niemand ist aufgeregt, alle sind heiter.
»Weil sie alle einen reservierten Platz haben«, erklärt Natalie mittels einer Übersetzungs-App auf meinem Handy. Deshalb ist es egal, ob man vorn oder hinten in der Schlange steht, der Zug wartet auf alle. Sie hat in Berlin ihre Tochter und die Enkelkinder besucht, jetzt fährt sie nach Hause. Ich trage ihren schweren Koffer die Treppen hinauf und hinunter, während sie mir das Prozedere erklärt. Als sie erfährt, dass ich Serhij Zhadan besuche, ruft sie nach einem Mann in einer Rot-Kreuz-Weste und fordert ihn auf, mich vorzulassen.
Hier, mitten in der Nacht auf einem abgedunkelten Bahnhof, erinnere ich mich wieder an meine Vermutung, dass die deutsche Vergangenheit mit mir reise.
Martin Schult
Als ich den beiden mit der App zu erklären versuche, dass ich mich nicht vordrängeln will, schauen sie mich irritiert an. »Ich bin ein einfacher Mensch, der keinen Bauch will«, zeigt mein Smartphone an, nachdem ich es zurückübersetzt habe. In der Ukraine werde ich den mobilen Datentransfer ausschalten. Aus Kostengründen hat man es mir empfohlen. Dann werde ich die App nicht mehr nutzen können. Angesichts dieser Übersetzungsfehler hat es aber vielleicht auch sein Gutes.
Die Grenzkontrolle ist unkompliziert. Natalie fährt in der Zweiten Klasse weiter, ich suche meinen Platz in der Ersten und bin begeistert: angenehm warm, sehr bequem, viel Platz. Die ukrainischen Züge sind fast einen Meter breiter als die zu Hause. Die junge Frau neben mir, die ich vielleicht etwas zu überschwänglich begrüße, dämpft meine Begeisterung. Ihre Mutter habe sie gebeten, zurückzukommen, nachdem der Vater und der Bruder gefallen seien, erzählt sie mir.
Die Kontrolle, die direkt nach unserer Abfahrt stattfindet, holt mich ganz in die Realität zurück. Schwer bewaffnete Soldaten blicken sich aufmerksam um. Alma, ein kleiner Mischlingshund, schnüffelt nach möglichem Sprengstoff im Gepäck und zwei humorlose Soldatinnen prüfen die Reisepässe, scannen sie und kontrollieren gewissenhaft ihre Echtheit.
In Lwiw steigen sie aus. Ich rauche auf dem Bahnsteig eine Zigarette und heiße mich in der Ukraine willkommen. Hier, mitten in der Nacht auf einem abgedunkelten Bahnhof, erinnere ich mich wieder an meine Vermutung, dass die Vergangenheit mit mir reise. Doch nur einmal, zwischen Katowice und Kraków, habe ich an das gedacht, was die Nazis dieser Region und ihren Menschen vor 80 Jahren angetan haben.
Zwei Stunden vor der Ankunft in Kiew wache ich auf. Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine Kuh, die direkt neben den Gleisen steht. Zwei Minuten später wieder ein paar Kühe. Sie gehören den armen Bauern, erklärt meine Nachbarin. Wie ihre eigene Familie besitzen sie keine Felder und Wiesen und lassen ihre Tiere auf der Bahnstrecke grasen. Dann weint sie wieder.
In Kiew, so habe ich es gelesen, hat man alle öffentlichen Stadtpläne unleserlich gemacht. Fotografieren soll zwar nicht verboten sein, man kann aber schnell verdächtigt werden, ein russi-scher Spion zu sein. An den Bahnhöfen, die wir passieren, hat man wegen des Kriegs anscheinend auch die Ortsschilder abmontiert. Ein Land versucht, sich unsichtbar zu machen. Aber in Zeiten von Google Maps erscheint mir das wenig aussichtsreich.
Auf der Strecke gibt es kaum Brücken oder Unterführungen, dafür umso mehr Schranken und Schrankenwärterhäuschen. Dort auf den Balkonen im ersten Stock stehen die Schrankenwärter:innen. Senkrecht vor der Brust halten sie alle ein gelbes Stöckchen, wenn der Zug vorbeifährt. Wahrscheinlich eine Nachricht an den Lokführer: freie Fahrt bis zur nächsten Schranke.
Die, die Serhij Zhadan kennen, schildern ihn als einen sehr freundlichen Menschen. Weil sie es mit Überzeugung sagen, glaube ich ihnen. Aber natürlich stelle ich mir die Frage, wie er zu mir sein wird. Da reist ein Mensch, der in einem anderen Land einen Preis organisiert, einen ganzen Tag mit dem Zug durch Osteuropa, um Details einer Veranstaltung zu besprechen, die in zweieinhalb Monaten stattfinden wird – für Ukrainer:innen im Moment vermutlich eine äußerst lange Zeitspanne voller Ungewissheiten.
Doch wie alle anderen, die den Friedenspreis erhalten haben, soll auch er wissen, was diese Auszeichnung für ihn bedeutet. Denn bis er einen noch renommierteren Preis gewinnt – immerhin haben zehn Friedenspreisträger:innen danach den Nobelpreis erhalten –, wird er so wahrgenommen werden: als der Friedenspreisträger des Jahres 2022. Die Medien – zumindest die in Deutschland, und das ist für ihn und seine Literatur ein wichtiges Land – werden dieses Attribut von nun an immer vor oder hinter seinen Namen stellen.
Deswegen bin ich neben vielen anderen Dingen auch dafür verantwortlich, ihn weiterhin einen Menschen sein zu lassen. Der Preis schubst ihn nach vorn und ich beschütze ihn dort. Fluch und Segen zugleich kann der Preis sein, Letzteres haben alle seine Vorgänger:innen erlebt, Ersteres kommt mitunter ebenfalls vor.
Smog, Staub, schwüle Hitze. Vom Bahnhof aus hat man einen weiten Blick über die Stadt, die ziemlich verbaut aussieht – moderne Wohnhochhäuser wechseln sich mit älteren Gebäuden ab, zum Teil sind es Zeugnisse der Sowjetarchitektur, zum Teil stammen sie wie in Berlin aus der Gründerzeit. Im Hotel gebe ich meinen Rucksack ab und laufe durch die Stadt, bevor ich Zhadan abends bei einer Lesung treffen werde.
Wenn Rom auf sieben Hügeln erbaut wurde, dann wurde Kiew auf mehreren Bergen erbaut. Manche Straßen haben eine Steigung von 15 Prozent. Bei dem warmen Wetter komme ich schnell ins Schwitzen, den Einwohnern von Kiew hingegen scheint es nichts auszumachen. Viele sind zu Fuß unterwegs, noch mehr aber mit dem Auto. Die großen Boulevards sind oft verstopft, hin und wieder aber liefern sich Fahrer in Armeeuniform Wettrennen, rasen mit 100 Stundenkilometern die breiten Straßen entlang und lassen die Motoren aufheulen. Wahrscheinlich brauchen sie das. Es ist sicher nicht erlaubt, doch man lässt sie gewähren.
Vom Krieg ist nicht viel zu sehen. Manche Denkmäler sind durch Sandsäcke geschützt, das Regierungsviertel ist abgesperrt, ab und an weisen Schilder auf Ukrainisch und Englisch darauf hin, bei Alarm die Metrostationen aufzusuchen. Die liegen etwa 100 Meter unter der Erde auf dem Niveau des Dnepr-Flusses. Acht Minuten dauert die Fahrt mit der Rolltreppe. Später wird mir erzählt, dass sie in den 60er Jahren deshalb so tief unter die Erde gelegt wurden, um sie als Schutzräume nutzen zu können – im Falle eines atomaren Angriffs der Amerikaner im Kalten Krieg.
Um halb sechs stehe ich vor dem ehemaligen großen Kino, das jetzt eine Art alternativer Kulturpalast ist. Drinnen sieht es aus wie in den 1980er Jahren, draußen warten schon die ersten Menschen auf Einlass. 500 Zuschauer:innen, die meisten unter 30 und weiblich, hören eine Stunde später Serhij Zhadan zu, wie er auf der Bühne Gedichte vorträgt. Ich verstehe kein Wort, lausche nur dem Klang seiner Worte und bin fasziniert von den »Standing Ovations« des Publikums. Später erfahre ich, dass die Gedichte aus den vergangenen acht Jahren vom Krieg handeln – davon, was er mit dem Land und den Menschen macht.
Zhadan ist ein bisschen jünger als ich, hat etwa meine Größe und ist überaus herzlich. Er trägt jetzt einen Bart, anders als auf dem Bild von Hanna Hrabarska, das wir als Friedenspreisfoto ausgewählt haben. Doch die Wärme in seinem Blick, verbunden mit einem leichten Lächeln, ist unverändert. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, war er 17 und konnte befreit ausprobieren, was an kultureller Tradition vorhanden war und was aus dem Westen rüberschwappte. Punk wurde zu einer seiner Leidenschaften und »Depeche Mode« namensgebend für ein Buch.
Die Bücher, die sein Verleger Sviatoslav Pomerantsev auf einem Tisch gestapelt hat, sind bald verkauft. Eine Schlange von etwa 300 Menschen bildet sich – alle wollen Bücher signieren lassen oder ein Selfie mit Zhadan machen. Ein Fernsehteam der ARD hat die Lesung gefilmt und macht noch ein paar Momentaufnahmen. Morgen werden sie den Autor interviewen – für ein Porträt, das auch Teil der Friedenspreisverleihung sein wird.
Seitdem Saporischschja beschossen wird, hat die ARD die Gefahrenstufe hochgesetzt. Der für das Porträt zuständige Journalist erzählt mir, dass die Koffer nun immer gepackt neben dem Bett stehen müssen – damit die Evakuierung schnell geht, falls es zur Kernschmelze kommt. Ob er mir Bescheid geben und mich mitnehmen könne, frage ich ihn, aber er ist sich nicht sicher. Versicherungstechnisch sei das schwierig. Seine Augen blitzen dabei belustigt.
Er und sein Team sind an den Menschen interessiert – für die tägliche Berichterstattung, die die Schreckensmeldungen vom Krieg begleitet. Das persönliche Schicksal soll die augenblickliche Tragödie in unsere Wohnzimmer tragen und sie fassbarer machen. Dafür muss man aber Kiew auch immer wieder verlassen, denn hier sind – wie bei uns – eher die Folgen des Kriegs zu spüren als seine konkrete Gewalt.
An Büchern verdiene er momentan kein Geld, erzählt mir Zhadans Verleger. Das Papier ist – wie bei uns – unglaublich teuer geworden, drucken lassen muss man wegen der zerstörten Druckereien mitunter im Ausland. »Ihr in Deutschland könnt ein Buch für 25 Euro oder mehr verkaufen. Hier liegt die Grenze bei etwa acht Euro.« Er bietet auch T-Shirts mit dem Konterfei Zhadans an. Ich kaufe ein paar Kühlschrankmagneten mit dem gleichen Motiv.
Zhadan und ich trinken mit ein paar Freunden noch Wein aus Plastikbechern. Seine Tochter, die ihn für ein paar Tage begleitet, ist müde. Da wir uns sowieso morgen treffen, gehe ich bald allein durch das festlich beleuchtete Kiew zurück zum Hotel. Meine Eindrücke von der Lesung vermischen sich mit dem äußerst lebensfrohen Nachtleben. Kiew feiert. Man streckt Putin den Mittelfinger hin: Wir werden niemals mit dir oder gar unter dir leben. Erschöpft von der Zugfahrt und den schweißtreibenden Spaziergängen verschlafe ich in der Nacht den Luftalarm und wache erst auf, als die Sirenen am Morgen Entwarnung geben.
Mein Treffen mit Serhij Zhadan verläuft gut. Wir verstehen uns, und dass er Deutsch spricht, macht es mir leichter. Die Stimmung in der Stadt, die mich irritiert, findet er positiv. Sogar in Charkiw gebe es einen recht normalen Alltag, erzählt er mir. Abends allerdings ziehe man sich in die Wohnung zurück. »Wer in einem Hochhaus im zehnten Stock oder höher lebt, kann nachts beobachten, ob die Russen 40 Kilometer entfernt wieder Raketen abschießen. Sieht man sie starten, ist es Zeit, in den Keller zu gehen.«
Nur eine Woche Urlaub in der Westukraine hat er sich in den vergangenen fünf Monaten gegönnt. Morgen reist er nach Polen, geht dort auf Lesereise, anschließend tourt er drei Wochen mit seiner Band »Zhadan i Sobaky« (Zhadan und die Hunde) durch Europa: Benefizkonzerte, um Geld zu sammeln und den dorthin geflüchteten Ukrainer:innen ein Stück Heimat zu bringen. »Aber habe ich ein unglaublich schlechtes Gewissen, Charkiw zu verlassen.«
Ich erzähle ihm von den Details der Verleihung, er geht auf alles sehr positiv ein. Über die Bücher mit den Reden Lew Kopelews (ebenfalls Ukrainer) und Swetlana Alexijewitschs (die er gut kennt) freut er sich sehr. Wie er letztlich im Oktober nach Frankfurt kommt, müssen wir noch offen lassen. Wer weiß schon, wie sich der Krieg bis dahin entwickeln wird.
Auch über die Diskussionen, die in Deutschland geführt werden, ist er gut informiert, und hat sogar Verständnis für die Sorgen wegen der hohen Energiekosten. »Wahrscheinlich wäre es anders-herum genauso, wenn Deutschland im Krieg wäre und die Ukraine dadurch wirtschaftliche Probleme hätte.« Am Ende des Gesprächs merken wir, dass wir auf einer ähnlichen Wellenlänge miteinander reden können. Und ich kann seinem Gesicht ablesen, wie dankbar er ist, dass ich diese Reise auf mich genommen habe.
Kiew gehört seinen Einwohnern, auch wenn viele Touristen unterwegs sind. Doch bis auf mich sind alle Ukrainer:innen. Die Männer tragen kurze Hosen, die Frauen Sommerkleider. Ich verfluche meine lange Hose und beobachte die Soldaten, die auf Heimaturlaub sind. Mit ihren Familien spazieren sie durch Kiew. Viele sind in meinem Alter, sie scherzen mit ihren Kindern und wenden sich doch hin und wieder ab. Dann verliert sich ihr Blick in der Ferne. Ob sie an schlimme Erlebnisse denken? Ich würde sie gern fragen, aber wie sollte man solch ein Gespräch beginnen?
Diejenigen allerdings, mit denen ich spreche und die sich trauen, mich zu fragen, was ich hier mache, strahlen, wenn ich Zhadan erwähne. »He is like a king«, sagt der junge Kellner im Kompot, einem Restaurant mit Spezialitäten aus Odessa, das direkt am Fluss liegt. Weil ich seinen Helden Zhadan kenne, geht der Kaffee aufs Haus.
Ich freue mich darüber, wie sich alle freuen, dass er den Friedenspreis erhält, auch wenn es umständlich ist, die Bedeutung dieses Preises zu erklären (»Aber wir sind doch im Krieg?«). Noch mehr jedoch faszinieren mich ihre eigenen Geschichten. Wahrscheinlich erzählt man sich untereinander kaum noch die persönlichen Tragödien. Aber einem neugierigen Deutschen öffnet man sein Herz.
Der Mann an der Hotelrezeption ist vor acht Jahren aus dem Donbass geflohen. Bis Februar hat er trotzdem regelmäßig seine Familie dort besucht – »18 Stunden Zugfahrt«, was ich natürlich mit einem Lächeln toppe. Als er berichtet, dass er mit seinen Eltern jetzt nur noch über schlechte Skype-Verbindungen Kontakt halten kann und sie dabei immer weinen, werde ich still.
Die beiden Frauen, die ebenso vergeblich wie ich an einem Kontrollposten um Durchlass bitten, um sich im gesperrten Regierungsviertel das berühmte Haus mit Chimären anzuschauen, kommen aus der Westukraine. »Von wegen ruhig«, lacht mich eine von ihnen aus, »bei uns schlagen mehr Raketen ein als hier. In Kiew steht die beste Luftabwehr.« Und deswegen machen sie hier Urlaub.
Und dann begegne ich Peter – geboren im Osten Sibiriens, Mutter Polin, Vater Rumäne, der Großvater hat die Konzentrationslager überlebt und eine Deutsche geheiratet. Peters Familiengeschichte ist verwirrend und führt um die ganze Welt. Er hat die polnische und rumänische Staatsangehörigkeit und hat zwei Jahre in Belgien Musik studiert. Überall könne er leben, beim Onkel in Atlanta oder beim Bruder in Erkelenz, doch er bleibt, weil er sich in der Ukraine mit ihrer Vielfalt an Kulturen am wohlsten fühle. Es sei so ganz anders als sein Geburtsland Russland. »Dort höre ich immer nur Blut. Blut und Vaterland. Die Ukrainer hingegen tragen ihr Herz auf der Zunge.«
Abends auf dem Balkon lese ich meine Notizen durch. Vieles, was ich erlebt habe, lasse ich weg – die zerstörten russischen Panzer, ausgestellt auf einem Platz nahe des Maidan, das Stadion von Dynamo Kiew, das im Sperrbezirk liegt und nicht bespielt werden kann, die jungen Street Dancer, umringt von Hunderten von Schaulustigen. In solchen Momenten habe ich mit den anderen gelacht, gestaunt, fotografiert und gemerkt, wie diese Menschen zu einer großen Solidaritätsgemeinschaft geworden sind. Der zu uns nach Deutschland getragene Nationalismus in der Ukraine hat mich wie viele andere etwas verstört. Hier in Kiew aber merke ich, dass er von unten kommt und nicht von oben vorgegeben wird.
Seit die Regierung das Kriegsrecht ausgerufen hat, sind Demonstrationen verboten, zu keiner Zeit aber habe ich bemerkt, dass die Demokratie in Gefahr ist, die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Der Krieg eint die Menschen, und merkwürdigerweise ziehen sie aus ihm zugleich die Hoffnung, dass alles gut wird.
Dann begegne ich Peter. Seine Familiengeschichte ist verwirrend – und führt einmal um die Welt.
Martin Schult
Sonntags stehen Hunderte Frauen aus den Vororten in den Straßen von Kiew und verkaufen Blumen, Kräuter, Knoblauch. Auch viele Geflüchtete nutzen diese Tradition, um etwas Geld zu verdienen. Bei einer Frau aus Luhansk kaufe ich eine gestrickte Katze. Ich merke, dass sie mir einen viel zu hohen Preis nennt, und sie merkt, dass ich das weiß. Ich hätte aber auch das Doppelte gezahlt.
Die Rückfahrt nach Przemyśl verläuft ruhig – bis in Lwiw wieder Soldat:innen einsteigen, um uns zu kontrollieren. Nach einer Stunde stoppt der Zug an einem dunklen Bahnhof. Vier junge Männer mit Rucksäcken und Isomatten müssen aussteigen. Sie wollten Urlaub in Westeuropa machen und haben geglaubt, man würde sie ausreisen lassen. Ihre Begleiterinnen, zwei junge Frauen, fahren weiter.
In Lwiw ist auch ein 50-jähriger Mann mit seiner alten Mutter eingestiegen. Sie haben vier schwere Koffer und jede Menge Taschen dabei. Ich frage, ob ich helfen kann. Der Mann lacht und lehnt ab. Er kommt wie Zhadan aus Charkiw. Seine Frau und seine Tochter sind vor sechs Monaten zu Verwandten nach Paris geflüchtet. Die Schwiegermutter ist in Warschau. »Dort fahren wir hin und treffen alle wieder. Und übermorgen fliegen wir nach Chicago.«
Eine christliche Organisation hat ihnen die Reise, die ein Umzug ohne Rückkehr ist, ermöglicht. Amerika ist sein Traum, seit zehn Jahren schon, und er will er als IT-Fachmann im Silicon Valley arbeiten. »California! Aber ich muss mein Englisch noch verbessern. Ich könnte noch nicht einmal Brot in einer Bäckerei kaufen.« Ich könnte ihm widersprechen, weil sein Englisch sich gut anhört – und er in Chicago vielleicht nicht so viele Bäckereien finden wird. Stattdessen biete ich ihm noch einmal meine Hilfe an, was er abermals ablehnt: »Jeder Schritt auf dieser Reise ist wie ein Wunder für mich. Und diese schweren Koffer werden mich ewig daran erinnern.«
Zwei Männer aus Charkiw. Der eine hat ein schlechtes Gewissen, sobald er seine Stadt verlässt, der andere bricht alle Brücken ab und nimmt sogar seine alte Mutter in die neue Heimat mit. Und doch gehören sie zusammen und bilden die Klammer meiner Reise in ein Land im Krieg – das uns zeigt, wie eine zivile Gesellschaft trotzdem funktionieren kann.
Der Schriftsteller, Übersetzer und Musiker wurde 1974 in Starobilsk / Luhansk in der Ukraine geboren, damals noch Sowjetrepublik. Zhadan zählt zu den wichtigsten, innovativsten und bekanntesten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur – und wird am 23. Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt (live in der ARD ab 10.45 Uhr).
In Romanen, Gedichten, Erzählungen, Reportagen und Essays widmet er sich vor allem der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion sowie dem Krieg in der Ukraine, der mit der russischen Annexion der Krim 2014 begann. Schauplätze seiner Texte sind in erster Linie die Stadt Charkiw und die Ostukraine, für die er sich auch sozial und kulturell engagiert.
Geehrt wird Zhadan neben seinem Werk auch »für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft«, wie es in der Begründung des Stiftungsrats heißt: »Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet er eine Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten.« Zhadan schreibt auf Ukrainisch – obwohl er in einer überwiegend russischsprachigen Region aufwuchs. Seine Bücher (darunter »Internat« und »Die Erfindung des Jazz im Donbass«, beide Suhrkamp) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
An Büchern verdiene er momentan kein Geld, erzählt mir Zhadans Verleger. Papier ist, wie bei uns, unglaublich teuer geworden.
Martin Schult
Die Zitate aus »Internat«, übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Durkot, drucken wir mit freundlicher Genehmigung der Suhrkamp Verlag AG.