Neue Sachbücher

Das Krisenjahr 1923

27. Januar 2023
Stefan Hauck

1923 war kräftig Dampf im Kessel. Viele Novitäten widmen sich den Konflikten von damals, aus denen sich 100 Jahre später fürs Heute lernen lässt.

Einschneidender Moment in der jüngeren Geschichte: Französische Truppen besetzen am 11. Januar 1923 Essen. 

474 Mark kostet ein Brot im April 1923, 69 000 Mark im August, im September schon 1 520 000 Mark und im Dezember gar unglaubliche 399 000 000 000 Mark. Die Hyper­inflation ist das unverkennbare Stigma des Jahres 1923, das sich in der Erinnerung von Generationen kollektiv fest­gesetzt hat und auch in den aktuellen Publikationen zu 1923 gebührend breiten Raum einnimmt. Unglaublich viel ist in jenem Jahr passiert, prominenten Zeitgenossen wie den kleinen Leuten. 

Wie man das unter einen Hut bringt, zeigt aufs Gelungenste der »Totentanz« von Jutta Hoffritz (HarperCollins, Februar): Die Leser:innen erfahren, warum Käthe Kollwitz im Februar ins Krankenhaus muss, der Dresdner Semperoper die Sänger weglaufen, die Regierung eine Verordnung gegen Wucher verabschiedet und wie die Floristen im Mai den Muttertag einführen. Die stimmig zusammengestellten Momentaufnahmen mit einordnenden Rückblicken eröffnen ein Kalei­doskop der Zeit; Protagonisten wie Kollwitz und Tucholsky tauchen immer wieder auf und sorgen für den roten Faden. 

Ebenso chronologisch nach Monaten geht Christian Bommarius’ »Im Rausch des Aufruhrs« (dtv) vor und erhellt in Schlaglichtern die explosive Mischung von wirtschaftlichem Niedergang und unverhohlenen Versuchen, der jungen Weimarer Demokratie den Todesstoß zu versetzen. Beim Lesen wird klar, wie viel Dampf da im Kessel war.

Erzählerischer ist »1923 Endstation. Alles einsteigen!« (Berenberg) angelegt, in dem Literatur und Theater einen erfreulich großen Raum einnehmen – Brecht, Hauptmann, Kafka, Canetti, Trude Hesterberg usw.: Auch die kulturellen Ereignisse sagen viel über dieses Krisenjahr aus, in dem fortschrittliche und konservative Kräfte um Deutungshoheiten und Veränderungen ringen. Peter Süß erzählt hier in sehr plastisch entwickelten Szenen so spannend und eloquent aus dem Inner Circle, dass man glaubt, überall dabei zu sein, mal als Logengast, mal mittendrin.

Passiver Widerstand

Prägend für das Jahr 1923 war der Einmarsch der Franzosen in Essen am 11. Januar, um mehr Kohle geliefert zu bekommen, weil das Deutsche Reich nach dem Vertrag von Versailles mit Repara­tionszahlungen im Rückstand war. »Hände weg vom Ruhrgebiet!« (Klartext Verlag) stellt die bis 1925 dauernde Ausnahmesituation der französisch-belgischen Besetzung eines Landesteils in den Mittelpunkt, der Auswirkungen auf die Reichs- wie die inter­nationale Politik hatte. Das Buch erzählt vom passiven Widerstand der Bevölkerung, von Eisenbahnboykotten beim Abtransport der Kohle, von Anschlägen und vom Alltag im Ruhrgebiet, von Verarmung, Hunger und den Erfahrungen der Besatzungssoldaten: Geschichte wird hier in nuce erfahrbar, auch dank des reichhaltigen Bildmaterials. 

Historiker Mark Jones richtet den Blick von außen auf die Ereignisse und analysiert in »1923. Ein deutsches Trauma« (Propyläen) die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland aufseiten der Politiker: Dem französischen Ministerpräsidenten Poincaré ging es nicht nur um ausstehende Reparationszahlungen in Form von Kohle, sondern auch um eine mögliche Zerstückelung Deutschlands. Jones legt dar, wie Poincaré auch aus persönlichen Gründen immer wütender die Daumenschrauben anzog und schließlich weitaus weniger erhielt als ohne sein Instrument der Besatzung des Ruhrgebiets. 

Die politisch Verantwortlichen auf deutscher Seite hätten letztlich eine Auflösung des deutschen Staatsgebildes riskiert, wenn sie auf Poincarés kalkulierte Forderungen eingegangen wären, so Jones. Gleichzeitig sorgte der passive Widerstand für massive innere Unruhen, die auch von völkisch orientierten Kreisen und den Nationalsozialisten weidlich geschürt wurden – der gescheiterte Hitler-Putsch am 8. und 9. November 1923 in München ist Thema in allen Büchern.  

Linksrepublikanisches Projekt

Über ein durchaus zukunftsweisendes Modell berichtet »Sachsen 1923« (Vandenhoeck & Ruprecht). Dort entwarf SPD-Ministerpräsident Erich ­Zeiger in einer Koalition mit den Kommunisten ein linksrepublikanisches Projekt für den Aufbau einer demokratisch-egalitären Gesellschaft, das sich auf das ganze Reich ausdehnen sollte. Berlin reagierte alarmiert, und als Zeiger die Aktionen illegaler Reichswehreinheiten öffentlich machte, marschierten am 23. Oktober 60.000 Reichswehrsoldaten in Sachsen ein, um die Macht zu übernehmen – ein klarer Verfassungsbruch. Aus vielen Quellen hat Karl Heinrich Pohl differenziert Fakten zusammengetragen, die heute weitgehend vergessen sind. Sehr aufschlussreich ist das Kapitel »Sprache im Parlament«, das die Nuancen im Parteiensprech herausarbeitet. 

Den Blick auf die Welt weitet der Titel »Krise!« (WBG), der neben Ägyptomanie, dem Gespenst eines kommunistischen Umsturzes und dem Hitler-Putsch auf die Stadt-Land-Konflikte während der Hyperinflation sowie die Diskussionen um das Frauenbild eingeht. Die Informationen über die gescheiterte Staatsbildung in der Ukraine 1923 machen den aktuellen Kampf der Ukrainer doppelt verständlich, auch der Neuanfang in der Türkei mit ungenutzten Chancen zur Versöhnung vermittelt Hintergrundwissen für die heutige Situation. Das ist es, was Geschichte immer wieder leisten kann: vom Gestern ins Heute weisen. 

Aktuelle Titel zum Jahr 1923

  • Christian Bommarius: »Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923«, dtv, Februar, 352 S., 14 €
  • Werner Boschmann (Hrsg.): »Ein Jahr spricht für sich. Ruhrbesetzung 1923«, Henselowsky u. Boschmann, 208 S., 19,80 €
  • Heinrich-Theodor Grütter, Ingo Wuttke, Andreas Zolper (Hrsg.): »Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923 – 1925«, Klartext, 208 S., 24,95 €
  • Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hrsg.): »Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte«, WBG Academic, 240 S., 40 €
  • Jutta Hoffritz: »Totentanz. 1923 und seine Folgen«, HarperCollins, 336 S., 23 €
  • Mark Jones: »1923. Ein deutsches Trauma«, Ü: Norbert Juraschitz, Propyläen, 384 S., 26 €
  • Sven Felix Kellerhoff: »Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht«, Klett-Cotta, März, 368 S., 25 €
  • Peter Longerich: »Außer Kontrolle. Deutschland 1923«, Molden, 320 S., 33 €
  • Wolfgang Niess: »Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats«, C. H. Beck, Februar, 350 S., 26 €
  • Karl Heinrich Pohl: »Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt –eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie?«, Vandenhoeck & Ruprecht, 308 S., 45 €
  • Peter Reichel: »Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923«, Hanser, 288 S., 26 €
  • Ralf Georg Reuth: »1923. Kampf um die Republik«, Piper, 368 S., 28 €
  • Frank Stocker: »Die Inflation von 1923. Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam«, FinanzBuch, 368 S., 27 €
  • Peter Süß: »1923 Endstation. Alles einsteigen!«, Berenberg, 240 S., 28 €
  • Volker Ullrich: »Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund«, C. H. Beck, 440 S., 28 €