Friedenspreis-Tagebuch, Teil 3

Weder Engel noch Held

28. Oktober 2022
Martin Schult

Der Friedenspreis ist verliehen, Serhij Zhadan bleibt in den Schlagzeilen. Ein Grund dafür, warum die Erinnerungen von Martin Schult an die Buchmessewoche verrückt spielen. Teil 3 seines Tagesbuchs über den Friedenspreis 2022 - von dem manche nun meinen, er sei ein Kriegspreis.

Dem Stiftungsrat war es bei seiner Entscheidung bewusst, dass er mit Serhij Zhadan keinen Engel – und auch keinen Helden – zum Friedenspreisträger wählt, sondern einen Menschen, dessen Land sich im Krieg befindet.

Martin Schult, beim Börsenverein für den Friedenspreis zuständig

Donnerstag, 27. Oktober 2022 – vier Tage später

Im Himmel über Frankfurt entdecke ich ein paar Schleierwolken, rosa angestrahlt durch die aufgehende Sonne. Die Vögel, die im Efeu des Nachbarhauses übernachtet haben, sind pünktlich gestartet, fünf Minuten später als gestern, die Tage werden schließlich kürzer. Bald werden die Uhren auf Winterzeit umgestellt, was diese Vögel aber nicht interessieren wird. Ihr Zeitverständnis ist ein anderes, von der Natur diktiertes. Ich lehne mich zurück, schaue noch einmal aus dem Fenster und weigere mich, mich jetzt schon geschlagen zu geben.

Denn so sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, die Tage vor und nach der Preisverleihung an Serhij Zhadan in mein der Zeitachse folgendes Tagebuch einzufügen. Zu viele Eindrücke drängen sich in der Rückbesinnung auf, sie konkurrieren um die Headline und weigern sich, ins zeitliche Schema gepresst zu werden.

Ich bin am wichtigsten, brüllt die eine Erinnerung. Setz mich bitte ans Ende«, schlägt eine andere vor, denn ich bin die Conclusio von allem. Ich rufe sie zur Ordnung: Dort in die Ecke, ihr Barbaren der Hirnsynapsen, und wartet, bis ich euch aufrufe!

Denn ich habe vor, mich an den organisatorischen Feinheiten festzuhalten, um mit ihrer Hilfe den Tag vor der Preisverleihung zu beschreiben. Oder sollte ich mich am Anfang dieses Textes erst einmal über den insgesamt gelungenen Sonntag freuen – über die Preisverleihung, bei der sich die einzelnen Teile, die wir so gut wie möglich vorbereitet haben, zu einem Ganzen zusammenfügten, von dem sich viele Gäste beeindruckt und begeistert zeigten?

Ich hole Luft und will ausführlicher werden, da tritt meine Erinnerung an Marcus Welsch aus der Ecke, ein Dokumentarfilmer aus Berlin und einer der besten Freunde Zhadans, der ihn seit zehn Jahren filmisch begleitet und trotzdem noch keinen Fernsehsender überzeugen konnte, sein Material in eine filmische Dokumentation über diesen außergewöhnlichen Menschen zu verwandeln.

Während er ebenfalls Luft holt, um mir noch einmal zu berichten, welche einzigartigen Szenen er mit Zhadan im Donbass gedreht hat, stößt ihn Fokstroty zur Seite – die Deutschlandpremiere des musikalisch-graphischen Projekts über das Slovo-Haus in Charkiw, bei dessen Aufführung vergangenen Freitag die drei Musiker:innen kuratiert von Oksana Shchur das Publikum in Begeisterung versetzten.

Erzähle doch auch von mir!, ruft die Schreibmaschine dazwischen, die man für diesen Auftritt benötigte und die man nach langem Suchen irgendwo in Frankfurt auftreiben konnte. Auf ihr lebte Zhadan zum Beat seines Freundes Yuriy Gurzhy seine musikalische Virtuosität aus, während Lyuba Yakimchuk mit ihrem Sprechgesang die wunderbaren Texte der Charkiwer Literaturavantgarde der 1920er Jahre vortrug.

Diese Erinnerung an die Schreibmaschine hat mit meiner Erinnerung an den Ofen Freundschaft geschlossen, über den Zhadan mir erzählt hat. Er hat ihn für seine Mutter besorgt, damit sie im Winter mit Holz heizen kann (auch in der Ukraine gibt es ein Energieproblem). Und zu diesen beiden gesellen sich jetzt auch die an die vielen Ukrainer:innen, die am Sonntag bei der Preisverleihung in Frankfurt oder am Montag bei unserer Veranstaltung in Leipzig dabei waren – mit strahlenden Gesichtern, Zhadan live zu sehen.

Jetzt passiert es also doch, ich hüpfe von einer Erinnerung zur nächsten. Bei der Erinnerungsarbeit sollte man das Vergessen nicht vergessen, hat Aleida Assmann – natürlich in einem anderen Kontext – einmal gesagt. Während ich über den Sinn dieses Satzes nachdenke, beobachte ich den »Skandal!«-Geier, der über meinen in der Zimmerecke stehenden Erinnerungen kreist. So gut genährt, wie er aussieht, kann ich ihn nicht unerwähnt lassen.

Wie zu anderen Gelegenheiten während des restlichen Jahres kreuzt dieser Vogel pünktlich im Oktober auf der Buchmesse auf und sucht nach Nahrung. Ich habe ihn schon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises entdeckt, wo er gierig die zu Boden gefallenen Haare von Kim de l‘Horizon aufpickte. Seit der Veröffentlichung der Facebook-Einträge Zhadans (»Himmel über Charkiw«, Suhrkamp Verlag), in denen der Schriftsteller die angreifenden Russen als »Horde«, »Verbrecher«, »Unrat« und »Barbaren« beschimpft hat, umspielt ein Lächeln seinen krummen Schnabel.

Sandra Kegel, die neben Volker Weidermann in meiner Zimmerecke steht, hat in ihrem FAZ-Artikel diese Schimpfwörter aufgelistet und eine bemerkenswerte Einschätzung dazu gegeben: »Solche Worte, gewählt von einem, der um das Gewicht von Worten weiß, machen klar: Nach dem Ende des Krieges wird es unabsehbar lange brauchen, bis heilen kann, was er [der Krieg] zerstört hat.«

In seiner Rede hat Zhadan das Wort "russländisch" verwendet, um damit zu verdeutlichen, dass ein Land – und nicht ein Volk – den Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.

Martin Schult

Volker Weidermann hat ebenfalls dem Geier die Schimpfwörter aus dem Schnabel gerissen, mit ihnen ein gepfeffertes Süppchen gekocht, um am Ende seines Artikels in der ZEIT darauf hinzuweisen, dass nicht Zhadans unter Bombenbeschuss geschriebene Schimpfwörter skandalös sind, sondern der russländische Angriffskrieg.

(Übrigens russländisch – was für ein ungewohntes Wort! Jemand hat es an meine Zimmerwand geschrieben – nicht Volker Weidermann, nicht Sandra Kegel, sondern Zhadan, weil er es in seiner Rede verwendet hat, um damit zu verdeutlichen, dass ein Land – und nicht ein Volk – den Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.)

Dem Stiftungsrat war es bei seiner Entscheidung bewusst, dass er mit Serhij Zhadan keinen Engel – und auch keinen Helden – zum Friedenspreisträger wählt, sondern einen Menschen, dessen Land sich im Krieg befindet und der deswegen keine neutrale Position annehmen kann. Und der im Nachwort von »Himmel über Charkiw« zugibt, selbst über sich erschrocken gewesen zu sein.

»Nie hätte ich gedacht, dass ich auf meinem Notebook solche Sätze schreiben würde«, erzählt er dort. »Durchaus möglich, dass mir noch am 23. Februar derart schicksalsschwangere Formulierungen zu pathetisch, übertrieben emotional, ja sogar ideologisch eingefärbt erschienen wären. Aber wenn man dich anruft und dir sagt, dass dein Bekannter, dem du noch gestern ein Auto gebracht hast, heute gefallen ist und dass man ihn nicht heimbringen kann, um ihn zu beerdigen, weil man seinen Kopf nicht findet, dann verstehst du, dass genau diese Worte heute für uns alle, für uns Ukrainer, die einzig zutreffenden und wahrhaftigen sind.«

Trotzdem ist dieser Mensch, der nun wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, um seinen Mitmenschen zu helfen, diesen Krieg zu überleben, Anlass für manche, sich zu beschweren. »Dann benennen Sie Ihren Preis doch um in Kriegspreis des Deutschen Buchhandels. Das wäre wenigstens nicht so verlogen«, schreibt eine kritische Stimme und zeigt damit (ohne es zu wollen) das auf, was tatsächlich nun verstärkt diskutiert werden sollte: Wie gehen wir Deutschen – wieder einmal – mit dem Krieg um?

Wer seinen Roman »Internat« gelesen hat, müsste verstehen, dass er alles andere ein Kriegstreiber ist.

Martin Schult

Ich drehe mich um zu meinen Erinnerungen und bemerke, wie diese Stimmen sich nun demonstrativ in eine andere Ecke stellen. Ob ich sie und die anderen Stimmen, die vor allem Positives über den Preisträger zu sagen haben, bitten soll, sich in der Mitte meines Hotelzimmers zu versammeln, um miteinander zu reden? Doch jetzt halten einige dieser kritischen Stimmen Schilder mit Internet-Links in die Höhe, mit denen sie kundtun, bei wem sie sich ihre Meinung abgeholt haben – bei jenen, die der Ukraine mindestens eine Mitschuld an dem Krieg geben und den »Nato-Westen« dafür verantwortlich machen, dass Russland gar nicht anders konnte, als das Nachbarland zu überfallen.

Andere kritische Stimmen machen sich hingegen wirklich Sorgen um den Zustand der Welt, die doch eine friedliche sein soll. Und auch wenn ich mit ihrer Analyse Zhadan gegenüber nicht einverstanden bin, kann ich ihren Reflex verstehen, die Entscheidung, ihn mit dem Friedenspreis auszuzeichnen, zu kritisieren. Sie sollten nur immer bedenken, dass er nie zu denen gehört hat, die solch einen Krieg wollten. Wer seinen Roman »Internat« gelesen hat, müsste verstehen, dass er alles andere ein Kriegstreiber ist.

Es macht keinen Sinn, sich in verschiedene Ecken zu stellen, wenn wir alle das gleiche wollen: Frieden.

Martin Schult

Eines aber fällt mir bei fast all diesen Stimmen auf. Sie benutzen in ihren Mails eine sehr ähnliche Wortwahl: »Zhadan bezeichnet in seinem soeben im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch Himmel über Charkiw die Russen als Horde, Verbrecher, Tiere, Unrat. Er schreibt: Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten. Er schreibt: Brennt in der Hölle, ihr Schweine.«

Das zeigt mir, dass sie seine Sammlung von Facebook-Posts gar nicht gelesen haben und somit den Kontext, in denen diese Wutausbrüche entstanden sind, nicht kennen. Da kann sich niemand herausreden, denn sonst wüsste die- oder derjenige, dass der letzte Satz gar nicht von Zhadan stammt, sondern ein Repost von Wasyl Riabko ist. Diese Verkürzung und die damit einhergehende Verfälschung macht das Miteinanderreden schwieriger, und doch ist es genau das, was wir tun sollten.

Es macht keinen Sinn, sich in verschiedene Ecken zu stellen, wenn wir alle das gleiche wollen: Frieden.

Kaum habe ich das hier hingeschrieben, um es weiter auszuführen, rollt eine Pink Floyd-Platte durchs Zimmer. Zwei frühe Alben dieser Band fehlen Zhadan noch in seiner Sammlung.

Martin Schult

Hey! Eine kleine Erinnerung zupft an meinem Ärmel und versucht, meine Gedanken zu unterbrechen. Hey! Ich bin auch noch da. Ich beuge mich zu ihr hinunter und weiß wieder, woher sie kommt: aus der Veranstaltung mir Zhadan in Leipzig, als der Moderator Stephan Detjen den Preisträger über Europa befragt hat. »Die Ukraine ist die Chance für Europa, sich zu verändern«, lautete Zhadans Antwort.

Kaum habe ich das hier hingeschrieben, um es weiter auszuführen, rollt eine Pink Floyd-Platte durchs Zimmer. Zwei frühe Alben dieser Band fehlen Zhadan noch in seiner Sammlung. In dem Plattenladen in Leipzig, zu dem ich ihn geschickt habe, wurde er leider nicht fündig. Sasha Marianna Salzmann läuft dieser rollenden Schallplatte hinterher. Auf ihren Schultern sitzt ein Engel mit einem gebrochenen Flügel. Sie hält Pascha an der Hand, den Protagonisten aus »Internat«, der die Orientierung verloren hat und im Kriegsgewühl seinen Neffen sucht.

Der Geier versucht, auf meinem Kleiderschrank zu landen und stürzt dabei ab. Ein Mann vom Fernsehen mit einer mobilen Kamera filmt, wie der Vogel vom Paulskirchenteam (meine Kolleg:innen vom Börsenverein) weggetragen wird. Mirrianne Mahn soll mit schwarzem Klebeband den Satz Hass ist keine Lösung (oder so ähnlich) auf die Rückseite ihrer Jacke geklebt haben. Ich kann es leider nicht sehen, während sie an Zhadan vorbeiläuft, der mitten unter meinen unzähligen Erinnerungen steht und seine Rede hält – auf Deutsch, weil wir ihm zuhören und ihn verstehen sollen. Aber meine Erinnerungen spielen jetzt wirklich verrückt, sie reden unentwegt, sie laufen hin und her, es entwickelt sich ein Riesenspektakel und doch gelingt es mir, Zhadan für einen Moment zuzuhören.

»Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre Emotionen rechtfertigen«, sagt er in diesem Moment, »aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu erklären. Warum? Schon allein deshalb, damit sie den Zorn und den Schmerz nicht länger allein bewältigen müssen. Wir können uns erklären, wir können beschreiben, was mit uns geschehen ist und weiter geschieht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das kein einfaches Gespräch wird. Aber so oder so müssen wir dieses Gespräch schon heute beginnen.«

Mit einem 2:1-Sieg gegen Marseille im Rücken (und noch etwas Restalkohol im Blut) packe ich im Frankfurter Haus des Buches meine Sachen zusammen. Morgen früh geht es zurück nach Berlin. In Marburg werde ich einen Zwischenstopp einlegen, um meinen Lieblingsonkel zu beerdigen.

Kommende Woche werden meine Kollegin Katrin und ich weiterhin versuchen, die kritischen Stimmen davon zu überzeugen, sich mit den tatsächlich gemachten Äußerungen und nicht der verfälschenden Verkürzung zu beschäftigen. Viele werden bei ihrer Meinung bleiben – und das sollen sie auch –, aber dann ist es hoffentlich die eigene.

Viel wichtiger aber ist, dass wir stolz auf den diesjährigen Friedenspreisträger und auf die Verleihung sein können. Danke, Katrin. Danke, Anuscha. Wir sind ein gutes Team. Nur eines werden sicherlich nicht tun. Wir werden nicht Harald Welzer den Gefallen tun, im nächsten Jahr die Menschen in der Paulskirche zu bitten, nicht so lange zu klatschen. Denn das tun sie schließlich bei allen Friedenspreisträger*innen.