Friedenspreisverleihung 2022: Aus der Dankesrede von Serhij Zhadan

"Selbst wenn unsere Kehle von den Wörtern wund wird"

22. Oktober 2022
Sabine Cronau

Wie verändert der Krieg den Menschen, seine Sprache, die Literatur? Darum kreiste die Friedenspreisverleihung an diesem Buchmesse-Sonntag. Geehrt wurde der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, für den der Krieg in seiner Heimat auch eine Frage an die Welt stellt: Ist sie bereit, "um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen" ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse zu schlucken?

Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen.

Serhij Zhadan, Friedenspreisträger 2022

Unter den 600 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche waren auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sowie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Die ARD hat den Festakt wieder live übertragen - zur Aufzeichnung in der Mediathek geht es hier. Ein Videoporträt widmet sich vorab dem Leben und der Arbeit von Serhij Zhadan, als Chronist dieses Krieges, aber auch als Musiker und freiwilliger Helfer.

In seiner beklemmenden, hochpolitischen Dankesrede (die er auf Deutsch hielt) schilderte Zhadan, wie der Krieg die Menschen, die Sprache, die vertraute Welt verändert: "Es ist traurig und bezeichnend, dass wir über den Friedenspreis sprechen, während in Europa wieder Krieg herrscht", so Zhadan - ein Krieg, der schon etliche Jahre andauere.

Für den Friedenspreisträger 2022 geht es deshalb vor allem um die Frage, inwieweit Europa bereit ist, sich dieser neuen Wirklichkeit zu stellen - einer Wirklichkeit aus zerstörten Städten, Massengräbern, Filtrationslagern.

"Und", so Zhadan weiter, "es geht auch darum, wie wir alle in dieser neuen Wirklichkeit weiterleben – mit den zerstörten Städten, den ausgebombten Schulen, den vernichteten Büchern. Und vor allem mit den Tausenden Toten, mit denen, die noch gestern ein friedliches Leben geführt und Pläne geschmiedet haben."

Serhij Zhadan: "Ohne Gerechtigkeit kein Frieden"

Manchmal komme es ihm so vor, "als würde die Welt, wenn sie beobachtet, was sich da seit sechs Monaten im Osten Europas abspielt, von Wörtern und Begriffen Gebrauch machen, die das, was passiert, schon längst nicht mehr erklären können", so Zhadan: "Was zum Beispiel meint die Welt – ich weiß um das Irreale und Abstrakte der Bezeichnung, habe sie aber hier bewusst gewählt –, wenn sie den Frieden zu einer Notwendigkeit erklärt?"

Auch die Menschen in der Ukraine würden sich nichts sehnlicher wünschen als das Ende des Krieges, der Gefechte, die Rückkehr zur Normalität. Dennoch würden sie oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklärten: "Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt."

Zhadans eindringliche Warnung in der Paulskirche: „Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden."

Es gebe vielleicht verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, zeitweilig besetzte Gebiete, "Zeitbomben", getarnt als politische Kompromisse, "aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht", machte der Friedenspreisträger deutlich: "Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen.“

Der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen.

Serhij Zhadan

"Lass es einen Text sein, aber nicht über den Krieg": So hatte Zhadan seine Dankesrede in der Paulskirche überschrieben. Ihr zentrales Thema war tatsächlich die Sprache. Ist Dichtung nach den Massakern von Butscha und Isjum weiterhin möglich? Ja, sie ist sogar notwendig, betont Zhadan: "Aber der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen. Das ist die schmerzliche und zugleich unabdingbare Vergegenwärtigung, dass Massengräber und zerbombte Wohnviertel von nun an den Resonanzraum für die in deinem Land verfassten Gedichte bilden."

Manchmal wirke die Sprache schwach, so Zhadan am Ende seiner Rede: "Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet (...). Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Selbst wenn unsere Kehle von den Wörtern wund wird. Selbst wenn du dich von den Wörtern verlassen und leer fühlst. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann."

Kann Poesie Frieden stiften? Vielleicht den inneren Frieden. Einen Moment der Reparatur der Welt, in dem ein Einzelner aufatmet.

Aus der Laudatio

Sasha Marianna Salzmann: "Dichter-Blick ohne Distanz"

Was die Sprache, was die Literatur vermag (in diesem Fall die von Serhij Zhadan): Damit beschäftigte sich Sasha Marianna Salzmann in der Laudatio. Frieden sei in den heutigen Tagen ein viel zu großes Wort, um es als Metapher zu benutzen", so Salzmann: "Kann Poesie Frieden stiften? Vielleicht den inneren Frieden. Einen Moment der Reparatur der Welt, in dem ein Einzelner aufatmet."

Die Perspektive, die ein Schreibender bei seinen Beobachtungen einnehme, verrate alles über seine Haltung zur Welt, meinte Salzmann, selber Autor:in. "Zhadan, der uns in seinem Werk so viele unterschiedliche Biografien wie nur möglich vergegenwärtigt, wählt nie die Vogelperspektive. Wir werden in seinem Blick keine Distanz erkennen."

In einer Zeit, "in der Worte, Positionen, Urteile uns wundreiben bis aufs Fleisch", schaffe dieser Dichter "Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit." Seine Dichtung sei nie hermetisch. Seine Dichtung ist nie hermetisch, nie in sich verschlossen. "Ein Auge schaut immer hinaus in die Welt, eine Hand scheint ausgestreckt und bereit, die Lesenden mit ins Gespräch zu ziehen."

Karin Schmidt-Friderichs: "Danke, dass Sie Zeugnis ablegen"

Was passiert mit einem Künstler, dessen Kultur – so Putins erklärtes Ziel – ausgelöscht werden soll? Was passiert mit einem Autor, dem die Sprache genommen werden soll? Diese Fragen stellte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, in ihrem Grußwort. "Den Worten des Dichters, der immer wortgewaltig war, kann man jetzt anspüren, was der Krieg mit Menschen macht. Seine literarische Stimme ist verstummt. In den sozialen Medien schreibt er weiter: Dokumentierend. Mut machend. Nicht literarisch. "

Zhadans Werk habe den Stiftungsrat begeistert, sprachlich, literarisch und musikalisch. Zugleich sei sein Engagement für die Menschen in seiner Heimat zutiefst beeindruckend: „Danke, lieber Serhij Zhadan, dass Sie uns mit Ihrer Dichtung auf die wesentlichen Fragen zurückwerfen, uns herausfordern, verunsichern. Danke, dass Sie die lange Reise auf sich genommen haben, weg von Ihren Landsleuten, um die Sie sich sorgen und für die Sie unermüdlich da sind – unter Einsatz Ihres Lebens! Danke für Ihre Romane, Ihre Gedichte, Ihre Musik. Das Zeugnis, das Sie ablegen. Über den Krieg.“

Ina Hartwig: "Die Wahrheit der Literatur ist etwas anderes"

Auch Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig hob in ihrem Grußwort die besondere Rolle hervor, die Literatur bei der Vermittlung von Wahrheit einnimmt: „Die Wahrheit der Literatur ist etwas anderes als die der Medien. Poesie und Prosa sind vielschichtiger (...). Sie sprechen zu uns auf andere Weise, berühren uns anders, tiefer.“

Mehr über Serhij Zhadan erfahren Sie hier im Porträt - mehr über den Friedenspreisträger auf der Buchmesse lesen Sie hier in einem Bericht über das Pressegespräch und hier im Friedenspreis-Tagebuch 2022 von Martin Schult.

Mehr über den Friedenspreis - und die Preisträger

Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren unter anderem Sebastião Salgado, Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Liao Yiwu, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann und im vergangenen Jahr Tsitsi Dangarembga. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Mehr über das Werk von Serhij Zhadan und über alle Preisträger:innen der vergangenen Jahrzehnte lesen Sie hier.