Die Post mag langsam sein, aber sie ist zuverlässig. Nach knapp einer Woche sind fast alle Eintrittskarten angekommen, für den Rest bereiten wir Ersatz vor.
»Keine Nachricht ist eine gute Nachricht«, pflegte mein Vater zu sagen. Mein Lieblingsonkel war anders. Er konnte es nicht ertragen, nicht über alles Bescheid zu wissen. Einmal fragte er mich nach dem Namen meiner Freundin. Ich war – sechzehn und Pickel – gerade solo und antwortete, dass ihn das nichts angehe. Daraufhin löcherte er mich den ganzen Tag und warf mir Frauennamen an den Kopf.
Jetzt aber sitze ich zwischen den Stühlen, zwischen Vater und Onkel, und schaue ständig nach, ob sich Serhij Zhadan gemeldet hat. Typisch Eintracht-Fan erwarte ich, dass es Probleme mit der Ausreisegenehmigung geben wird. Man erwartet immer das Schlimmste (Bochum) und ist, anstatt sich zu freuen, eher erleichtert über das Gute (Leverkusen). Serhij aber meldet sich nicht.
Während der Vorstandssitzung (in der gesagt wurde, dass man nun offiziell mitteilen darf, dass Olena Selenska nach Frankfurt kommt), zwischen Ab- und Zusagen und weiteren zahlreichen Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen (wir haben die Urkundenmappe in Berlin vergessen L), aber vor allem während der Verleihung des Deutschen Buchpreises (Kim! J) schaue ich ständig nach, ob es Neuigkeiten gibt … bis ich es aufgebe: Serhij Zhadan wird auf dem Weg sein, alles ist gut, morgen hole ich ihn am Flughafen ab – was soll denn sonst passieren?
Kiew wird beschossen. Vor einem Monat habe ich ihn dort getroffen, jetzt wird die Stadt durch Drohnen iranischer Bauart angegriffen. Ich sehe Straßenzüge, durch die ich damals gelaufen bin, als alles ruhig war, als die Menschen wieder ein fast halbwegs normales Leben geführt haben. Jetzt sind dort Häuser zerstört und Menschen gestorben. Die deutschen Journalist*innen berichten, dass die Bewohner*innen sich davon nicht unterkriegen lassen wollen.
Ich glaube es ihnen. Die Solidarität unter Ukrainer*innen hat mich damals sehr beeindruckt. So etwas habe ich in unserem – trotz allem – friedlichen Land noch nicht erlebt. Und trotzdem erscheint dieser Zusammenhalt manchen hier, weil sie ihn als Patriotismus oder Nationalismus bezeichnen, befremdlich.
Seit der Reichsgründung 1871 ist Deutschland nicht mehr von einer fremden Macht angegriffen worden, im Gegenteil. Das Kaiserreich hat in seinen Kolonien Kriege geführt, es hat im Ersten Weltkrieg erst Russland und dann Frankreich den Krieg erklärt, und am 1. September 1939 hat das Dritte Reich behauptet, die Polen hätten angefangen, deswegen wird jetzt zurückgeschossen.
Obwohl es viele hätten besser wissen müssen, hat man das andere Land als den Feind bezeichnet, als einen Aggressor, gegen den man sich wehren muss. Deutschland wurde nie überfallen. Vielleicht fällt es deswegen manchen schwer, sich in die Situation der Ukrainer*innen hineinzuversetzen. Man kennt schließlich nicht das zusammenhaltende Narrativ derjenigen, die sich gegen das Böse zur Wehr setzen müssen. Für die deutsche Gesellschaft war Patriotismus bislang immer mit Angriff und nicht mit Verteidigung verbunden … nächtliche Gedanken, unausgegoren, vielleicht falsch.
Richtig aber ist: Morgen ist Dienstag. Morgen früh bricht der Vogelschwarm wieder auf. Morgen Abend kommt Zhadan!