Friedenspreis-Tagebuch von Martin Schult / Teil 1

"Serhij aber meldet sich nicht"

18. Oktober 2022
Redaktion Börsenblatt

Kiew wird beschossen, die Post macht Probleme, sein Lieblingsonkel ist gerade gestorben und wird Serhij Zhadan rechtzeitig seine Ausreisegenehmigung erhalten? Martin Schult, beim Börsenverein für den Friedenspreis zuständig, hat für Börsenblatt online ein Friedenspreis-Tagebuch in drei Teilen geschrieben.

Samstag, 15.10.2022 – noch acht Tage

Mit einem 5:1-Sieg im Rücken geht alles leichter. Rund fünfzig Gäste müssen noch platziert werden, doch am Ende sind die Lücken im Auditorium bei der Friedenspreisverleihung geschlossen, die Karten für diejenigen, die sich eigentlich zu spät angemeldet haben, ausgedruckt und eingetütet, die Umschläge frankiert und ab die Post.

Gestern erhielten wir die Nachricht, dass der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko und die First Lady Olena Selenska zur Buchmesse kommen und eventuell auch an der Preisverleihung teilnehmen wollen. Da niemand einen Kontakt vermitteln kann, schreiben wir die beiden über Facebook an. Den Kulturminister hatten wir vor Wochen sogar schon per Brief eingeladen – er hat sich nicht gemeldet, aber vielleicht war es auch naiv, in Zeiten des Krieges auf diesen Kommunikationsweg zu setzen.

Auch hier in Deutschland macht uns die Post Probleme. Vier Tage nach der Aussendung sind viele Eintrittskarten noch nicht angekommen. Diese Verzögerung liegt aber nicht am Krieg, sondern an der Pandemie. Ein Fünftel der Briefträger*innen sind erkrankt. Das Friedenspreis-Büro ist – zum Glück – gesund, vierfach geimpft und heiter gestimmt. Nur eine Ungewissheit schwebt über unseren Köpfen: Wird Serhij Zhadan rechtzeitig seine Ausreisegenehmigung erhalten?

Von Charkiw nach Frankfurt – was vor Kriegszeiten in ein paar Stunden zu bewältigen war, ist heute mit einer halben Weltreise vergleichbar. Von Charkiw bis Kiew mit dem Auto oder Zug, dann weiter ins polnische Przemyśl. Dort wird er um- und in Krakau wieder aussteigen, um den Flug um 19.05 Uhr zu erwischen, der um 20.20 Uhr in Frankfurt landet. Vielleicht muss Serhij Zhadan losfahren, bevor die Genehmigung kommt. Wir sind gespannt auf seine Nachrichten …

… gespannt aber auch darauf, wie es ihm dabei gehen wird. In der heutigen "Spiegel"-Ausgabe wird er zitiert, wie unwohl er sich fühle, wenn er sich außerhalb der Ukraine aufhalte. Ständig checke er Nachrichten, vor kurzem sei sogar eine Rakete neben seinem Haus in Charkiw eingeschlagen, was ein ziemlich seltsames Gefühl sei. »Da ist [aber noch] so eine seltsame Sache, die ich nicht nur bei mir beobachte, sondern bei vielen Menschen: Je weiter jemand vom Krieg entfernt ist, desto beunruhigter ist er. Wenn man sich hingegen in Charkiw befindet, das beschossen wird, fühlt man sich ruhiger.«

Der Krieg verdreht Gefühle, schlussfolgert Jurek Skrobala, der Autor dieses Artikels, und zitiert noch einmal Zhadan, für den der Krieg die Zeit verdichte: »Diese sieben Monate kommen einem vor wie ein Tag.«

Wie wird es also sein, wenn er hier ankommt? Ob er gleich wieder weg will? Noch keine Antwort von Frau Selenska und Herrn Tkatschenko auf Facebook. Aber morgen treffen wir den ukrainischen Generalkonsul. Vielleicht weiß er mehr …

Sonntag, 16.10.2022 – noch sieben Tage

Die Wand des Nachbarhauses vom Hotel Nizza ist mit Efeu bewachsen. Dort treffen sich um etwa sieben Uhr morgens mehr als tausend Vögel und zwitschern, was das Zeug hält. Hin und wieder fliegen kleinere Gruppen zum nahen Kirchdach und wieder zurück. Um Viertel nach wird das Zwitschern und Flügelschlagen ohrenbetäubend, die Vögel machen sich bereit … um mit einem nie zuvor gehörtem wwwuummm loszufliegen. Ein riesiger Schwarm kreist über den Dächern Frankfurts, kommt zurück, nur um in einem noch größeren Schwarm ein zweites Mal aufzubrechen.

Wwwuummm – unbesiegbar scheinen diese Vögel zu sein, keiner tanzt aus der Reihe, sie wissen, wohin sie wollen, selbst wenn es nicht ersichtlich ist, wer diesen Schwarm überhaupt anführt oder lenkt. Sogar die vereinzelt nachfolgenden Krähen scheinen beeindruckt. Auch sie, größer und stärker, könnten in Formation fliegen, doch sie tun es nicht. In diesem Moment gehört der Himmel den kleinen Vögeln.

Wie immer dreht sich bei uns in den letzten Tagen alles nur noch um die Verleihung und den Preisträger. Doch in diesem Jahr ist etwas Neues hinzugekommen, zu dem wir automatisch alles in Bezug setzen. In Zeiten eines Krieges bekommt ein riesiger Schwarm von kleinen Vögeln somit auf einmal eine neue Bedeutung. Der einzelne ist schwach, zusammen aber wachsen sie über sich hinaus.

Der Generalkonsul weiß mehr: Kulturminister Tkatschenko würde gar nicht kommen und die First Lady der Ukraine bereits am Sonntagvormittag abreisen, zur gleichen Zeit, wenn die Verleihung in der Paulskirche beginnt. »Mit dem Flugzeug nach Polen und dann weiter mit der Bahn.« Der Weg in die und aus der Ukraine ist im Moment für alle der gleiche.

Union düpiert Dortmund, im Nachbarraum wählt die Jury den oder die neue*n Buchpreisträger*in – im fünften Stock des Frankfurter Haus des Buches wird an diesem Tag also Geschichte geschrieben. Gestern Abend habe ich erfahren, dass mein Lieblingsonkel gestorben ist. Eine Lungenentzündung mit einer anschließenden Corona-Infektion hat den Körper des 96jährigen zu sehr geschwächt.

»Immerhin habe ich länger als die Queen gelebt«, hat er meinem Cousin am Sterbebett erzählt. Von ihm weiß ich auch, dass auf dem Nachttisch meines Onkels einer meine Romane lag. Ich würde gerne wissen welcher, ich frage aber nicht. Denn eigentlich ist es egal.

Heute am Morgen habe ich das Malheur entfernt, das ich gestern bei diesem Telefonat angerichtet hatte. Mehrmals war ich im Büro draußen auf dem Balkon gewesen und hatte – bedingt durch das Regenwetter – auf dem hellgrauen Teppich schwarze Fußspuren hinterlassen. Der gestern noch kurz vor Ladenschluss gekaufte Teppichschaum half, meinen Kolleginnen Katrin und Anuscha fällt nichts auf. Sonst ist nichts weiter passiert – ein normaler Tag mit zeitaufwändiger Routine, die genauso wenig in die Geschichte eingehen wird wie das abendliche Mispelchen mit Calvados im Gemalten Haus.

Montag, 17. Oktober 2022 – noch sechs Tage

Die Post mag langsam sein, aber sie ist zuverlässig. Nach knapp einer Woche sind fast alle Eintrittskarten angekommen, für den Rest bereiten wir Ersatz vor.

»Keine Nachricht ist eine gute Nachricht«, pflegte mein Vater zu sagen. Mein Lieblingsonkel war anders. Er konnte es nicht ertragen, nicht über alles Bescheid zu wissen. Einmal fragte er mich nach dem Namen meiner Freundin. Ich war – sechzehn und Pickel – gerade solo und antwortete, dass ihn das nichts angehe. Daraufhin löcherte er mich den ganzen Tag und warf mir Frauennamen an den Kopf.

Jetzt aber sitze ich zwischen den Stühlen, zwischen Vater und Onkel, und schaue ständig nach, ob sich Serhij Zhadan gemeldet hat. Typisch Eintracht-Fan erwarte ich, dass es Probleme mit der Ausreisegenehmigung geben wird. Man erwartet immer das Schlimmste (Bochum) und ist, anstatt sich zu freuen, eher erleichtert über das Gute (Leverkusen). Serhij aber meldet sich nicht.

Während der Vorstandssitzung (in der gesagt wurde, dass man nun offiziell mitteilen darf, dass Olena Selenska nach Frankfurt kommt), zwischen Ab- und Zusagen und weiteren zahlreichen Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen (wir haben die Urkundenmappe in Berlin vergessen L), aber vor allem während der Verleihung des Deutschen Buchpreises (Kim! J) schaue ich ständig nach, ob es Neuigkeiten gibt … bis ich es aufgebe: Serhij Zhadan wird auf dem Weg sein, alles ist gut, morgen hole ich ihn am Flughafen ab – was soll denn sonst passieren?

Kiew wird beschossen. Vor einem Monat habe ich ihn dort getroffen, jetzt wird die Stadt durch Drohnen iranischer Bauart angegriffen. Ich sehe Straßenzüge, durch die ich damals gelaufen bin, als alles ruhig war, als die Menschen wieder ein fast halbwegs normales Leben geführt haben. Jetzt sind dort Häuser zerstört und Menschen gestorben. Die deutschen Journalist*innen berichten, dass die Bewohner*innen sich davon nicht unterkriegen lassen wollen.

Ich glaube es ihnen. Die Solidarität unter Ukrainer*innen hat mich damals sehr beeindruckt. So etwas habe ich in unserem – trotz allem – friedlichen Land noch nicht erlebt. Und trotzdem erscheint dieser Zusammenhalt manchen hier, weil sie ihn als Patriotismus oder Nationalismus bezeichnen, befremdlich. 

Seit der Reichsgründung 1871 ist Deutschland nicht mehr von einer fremden Macht angegriffen worden, im Gegenteil. Das Kaiserreich hat in seinen Kolonien Kriege geführt, es hat im Ersten Weltkrieg erst Russland und dann Frankreich den Krieg erklärt, und am 1. September 1939 hat das Dritte Reich behauptet, die Polen hätten angefangen, deswegen wird jetzt zurückgeschossen.

Obwohl es viele hätten besser wissen müssen, hat man das andere Land als den Feind bezeichnet, als einen Aggressor, gegen den man sich wehren muss. Deutschland wurde nie überfallen. Vielleicht fällt es deswegen manchen schwer, sich in die Situation der Ukrainer*innen hineinzuversetzen. Man kennt schließlich nicht das zusammenhaltende Narrativ derjenigen, die sich gegen das Böse zur Wehr setzen müssen. Für die deutsche Gesellschaft war Patriotismus bislang immer mit Angriff und nicht mit Verteidigung verbunden … nächtliche Gedanken, unausgegoren, vielleicht falsch.

Richtig aber ist: Morgen ist Dienstag. Morgen früh bricht der Vogelschwarm wieder auf. Morgen Abend kommt Zhadan!