Friedenspreis-Tagebuch von Martin Schult / Teil 2

"Gab es schon einmal einen verlässlicheren Preisträger als ihn?"

21. Oktober 2022
Martin Schult

Die Messe hat begonnen. Serhij Zhadan ist mal da, dann wieder weg - und setzte sich mit der Kritik der letzten Tage auseinander. Martin Schult, beim Börsenverein für den Friedenspreis zuständig, hat für Börsenblatt online ein Friedenspreis-Tagebuch in drei Teilen geschrieben. Hier ist der zweite.

Mittwoch, 19. Oktober 2022 - noch vier Tage

Der Nachrichtenticker funktioniert. Obwohl wir im Haus des Buches sitzen, also weit weg vom Messegelände, bekommen wir so einiges vom ersten Tag der Buchmesse mit.

Weil es bei den Buchmessentickets in diesem Jahr keine kostenlose Nutzung von Bussen und Bahnen gibt, hat sich eine Freundin aus Berlin einen interessanten Trick ausgedacht. Um zu vermeiden, jeden Tag in der Schlange vor den Fahrkartenautomaten zu warten, hat sie sich gleich zehn Einzeltickets auf einmal gekauft. Das erste wollte sie gleich nutzen und fragte einen Passanten, wo man denn – wie in Berlin – die Fahrkarten abstempeln könnte. »Da kann ja jeder kommen«, war die lapidare Antwort der Schalterbeamtin des RMV, als meine Freundin versucht hat, die Einzelfahrscheine gegen eine Wochenkarte umzutauschen …

Auch die Buchmesse löst Irritationen aus, weil sie den Stand des PEN Berlin mit PEN Deutschland betitelt hat. Darmstadt ärgert sich (»Es gibt nur einen Rudi Völler!«), Berlin ist belustigt. Das spanische Königspaar eilt von Stand zu Stand, schüttelt kurz Hände, und schon geht es weiter. Und im Übersetzer-Forum gibt es hübsche Untersetzer für Gläser oder Tassen. Natürlich steht da Übersetzer drauf …

Ansonsten sollen die Hallen voll sein, man begegnet sich wieder, die Sorge einer Corona-Ansteckung ist groß, aber hey – es ist Messe! Buchmesse!!

»Siehst du des Schutzmanns Brust oder Rücken…« Auf der Kreuzung neben der Paulskirche üben ein paar Polizeianwärter die Verkehrsregeln. Die Ampeln sind ausgeschaltet, die jungen Männer werden von ihren Ausbildern lautstark kritisiert – obwohl, so jung sehen sie gar nicht mehr aus, doch vielleicht gehört es ja dazu, dass man sich gleich im ersten Ausbildungsjahr einen Bart (mindestens 5 Tage) stehen lässt, um älter und erfahrener zu wirken.

Als ich nach Kiew gefahren bin, um Serhij Zhadan zu besuchen, habe ich viele junge Leute in Uniform durch die Stadt laufen gesehen, mehr Männer als Frauen, manche schon älter und erfahren, viele aber noch jung und vor allem glattrasiert. Auch die Tarnuniformen waren sauber und frisch gebügelt. Sie sahen sehr verletzlich, zugleich aber stolz aus, ihrem Land zu helfen – das zu sehen war ungewohnt für einen Kriegsdienstverweigerer wie mich, doch der Krieg zwingt uns fast täglich, unsere Vorstellungen von der Welt zu korrigieren.

Der Polizeiausbilder brüllt ein weiteres Mal die Anwärter an, bevor sie uns Fußgänger – endlich – über die Kreuzung lassen. Der Frankfurter Hof liegt zwei Straßen weiter. Dort hat Serhij Zhadan heute Vormittag schon drei Interviews gegeben.

Natürlich ist er gestern angekommen, und ebenso natürlich war ich viel zu früh am Flughafen, als wäre es möglich, dass eine Maschine unerwartet eine Stunde früher landen würde. Was aber macht man in dieser Zeit? Ein Schaufensterbummel ist in den Abholhallen nicht möglich, der Cappuccino kostet 5,75 Euro, die Eintracht führt im Pokalspiel souverän.

Also schaut man sich die anderen Wartenden an, die in Vorfreude des Wiedersehens unter all den Ankommenden den oder die richtige suchen, und wandert zwischen den Ausgängen hin und her, weil auf der digitalen Infowand der Ausgang für die Krakauer Maschine zwischen A, B1 und B2 hin- und herwechselt. Zhadan kommt schließlich aus einer anderen Tür als angegeben heraus.

Müde sieht er aus, aber er ist da …

 

… und so gehen wir heute zusammen ins Haus des Buches, um dort seine Rede einzustudieren. Er wird sie auf Deutsch halten, er spricht selbst schwierige Worte gut aus, sein W klingt wie ein »Wa«, und bei »Ameisenhügel« müssen wir beide lachen: »Am Eisenhügel«. Es bleibt Zeit für ein schnelles Mittagessen, und weil wir uns seit Tagen auf Rindergulasch mit Nudeln gefreut haben, das es bei dem Metzger »Maa Worscht« in der Braubachstraße gibt, überreden wir Serhij, dort zu essen.

Er freut sich über das Ehepaar aus Thüringen, das die Metzgerei führt, und vielleicht ist er sogar erleichtert, ganz normal an einem Imbisstisch zu sitzen, als im Frankfurter Hof zu dinieren. Ausführlich erzählt er uns über die in der Ukraine so beliebten Milchprodukte aus Belarus. Sie werden, wie auch alle Waren aus Russland, nicht mehr in die Ukraine geliefert. Am Abend treffen wir ihn beim Kritikerempfang des Suhrkamp Verlags wieder …

… gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann liest er Ausschnitte aus seinem neuen Buch. Sie haben sich heute erst kennengelernt und verstehen sich auf Anhieb. Der Applaus ist verhalten, was sowohl an den Weingläsern in den Händen liegt, die das Klatschen erschweren, als auch am Thema. Wie soll man auf das Vortragen von Texten, die im Krieg geschrieben wurden, reagieren?

Donnerstag, 20. Oktober 2022 – noch drei Tage

Kaum ist er da, schon ist Serhij Zhadan wieder weg – auf den Weg nach Krakau, wo er einen Preis entgegennimmt. Die Sorge, dass er den Rückflug verpassen könnte, ist unberechtigt. Gab es schon einmal einen verlässlicheren Preisträger als ihn?

Abends auf dem Weg zur Premiere seines neuen Buches »Himmel über Charkiw« erzählt er mir von Taira, einer ukrainischen Ärztin für die Frontsoldaten, die bei der Eroberung Mariupols von der russischen Armee inhaftiert wurde und für drei Monate ins Lager kam. Heute Abend kommt sie nach Frankfurt. Ihre Einsätze filmte sie mit einer Helmkamera. In der Ukraine ist sie eine Legende.

Auf der Lesung fragt ihn Katherina Raabe nach den Sätzen, die seit einigen Tagen in den deutschen Medien diskutiert werden. Wie verhalten sich die literarischen Passagen in dem Buch zu jenen Stellen, in denen die Russen beschimpft und beleidigt werden? Sind diese Einwürfe agitatorisch, propagandistisch?

Serhij versteht diese Sorge, gibt aber zu bedenken, dass diese Worte aus der Situation heraus geschrieben wurden, als Facebook-Post, beeinflusst von seinen Emotionen in diesen Momenten. Er habe nie daran gedacht, daraus ein Buch zu machen. Dass man die Posts für die deutsche Ausgabe von Charkiw hätte bearbeiten sollen, habe er sich auch kurz gefragt, sich dann aber dagegen entschieden: Alles sollte so bleiben, wie er es damals erlebt, gefühlt und geschrieben hat. »Es ist ein Tagebuch und keine reflektierte Literatur.«

Er liebe das Buch gerade wegen der vielen Fotos von seinen Freunden, die darin veröffentlicht sind, und erzählt noch von zwei Schulfreunden aus seiner Heimatstadt. Der eine konnte nach Polen fliehen, der andere wurde von der russischen Besatzungsmacht festgenommen. Zwölf Jahre Haft, weil er vor ein paar Jahren in der ukrainischen Armee gedient hat.

Nach der Lesung ist die Schlange lang. Auch viele Ukrainer*innen haben sich das Buch gekauft, weil es bislang nur diese deutsche Ausgabe gibt. Genau wie bei seinen Konzerten machen sie Selfies mit ihm. Nach einer dreiviertel Stunde sind alle Bücher signiert, die Fotos gepostet, Serhij umarmt.

Der Tag war lang, die Nacht ist – noch – trocken. Morgen soll es regnen, aber am Sonntag scheint die Sonne – Friedenspreiswetter.

Freitag, 21. Oktober 2022 – noch zwei Tage

Die Luft im Pavillon auf der Buchmesse ist ebenso neblig wie draußen in der Stadt. Hier aber ist der Nebel künstlich, hier proben Yuriy Gurzhy und Serhij Zhadan für ihren Auftritt am Abend: »Fokstroty« – vertonte Ausschnitte aus Büchern ukrainischer Schriftsteller, die in den 1920er Jahren ein Haus in Charkiw bewohnt haben, und die ein paar Jahre später vertrieben oder ermordet wurden. Mit einem Schlag wurde damals die gerade erst entstandene ukrainische Literaturszene zerstört. Yuriy und Serhij haben die alten Bücher gesammelt und für ihren Auftritt bearbeitet. Allein die Probe verspricht einiges für das Konzert um 18 Uhr.

Der Tag wird mit einem Liveinterview in den Tagesthemen enden. Dann ist es nur noch ein Tag bis zur Preisverleihung. Die Spannung steigt. Was auch jetzt noch passieren sollte, wir sind bereit …