"Dürfen wir noch die Friedenspfeife rauchen?", hatte Jens Balzer (Autor und Journalist, "Ethik der Appropriation", Matthes & Seitz) seinen Vortrag überschrieben, der die zweite Diskussion zum Thema neue Sensibilitäten einleitete. Er erinnerte an die vieldiskutierten Kulturmeldungen über Konzertabbrüche wegen Dreadlocks oder die Winnetou-Debatte aus dem vergangenen Sommer. Unangemessene kulturelle Aneignung riefen die einen, ein Fall von Cancel Culture durch "woke" Communities die anderen. "Wir erleben eine Übertragung, in Deutschland ist die Aneignungsdebatte wiederum angeeignet", erklärt Balzer. Er lieferte einige Definitionen aus dem Spektrum zwischen "kultureller Reinheit" und "Aneignungsfreude" und plädierte dafür ein aufgeklärtes Verhältnis zu kultureller Aneignung zu finden. "Aneignen, aber richtig", so Balzer, "was richtig ist, findet man am besten im Dialog heraus".
In der anschließenden Gesprächsrunde mit Jens Balzer, Tobias Graser (Konzepter und Texter Turn Storytelling) und Frank Menden, Buchhändler stories!, Hamburg, und Mitglied der Jury Deutscher Buchpreis, wurde das Problembewusstsein geschärft, eine Lösung für die Vermeidung von Shitstorms gab es nicht. Im Fall Winnetou habe Ravensburger richtig reagiert, meinte der Experte Tobias Graser, der Verlag habe ein Problem erkannt, darauf reagiert und das mitgeteilt. Dass die "BILD"-Zeitung den Originalpost als Sprungbrett für eine Debatte und Verkäufe genutzt habe, hätte man nicht antizipieren können.
Frank Menden berichtete über die Wochen nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises an Kim de l’Horizon: Erst gab es Lob, dann einen Shitstorm, der ihn auch persönlich erreicht hat, bis hin zu der Drohung: "ich weiß, wo du wohnst" und aggressiven, direkt auf ihn als Person abzielenden Kommentaren in der Buchhandlung. Das war beklemmend zu hören, doch einfache Lösungen hatte das Podium nicht parat.
Fazit dieser Runde: Das Problem bleibt, Shitstorms lassen sich nicht verhindern. Mehr Resilienz angesichts von Shitstürmen und -stürmchen aufbauen vielleicht?
Ihre Berichterstattung zu dem Panel über Sensitivity Reading bei der IGBelletristik Sachbuch irritiert uns sehr, denn sie scheint uns nicht das wiederzugeben, was dort abgelaufen ist.
Obwohl wir die Veranstaltung nicht besucht haben, möchten wir uns dazu äußern, weil wir die Beiträge danach gelesen und vor allem das Video von Victoria Linnea und Jade S. Kye gesehen habe, in dem sie die Ereignisse rekapitulieren und in dem deutlich wird, dass sie ganz und gar nicht den Eindruck haben konnten, dass echtes Interesse und Wertschätzung für Ihre Arbeit vorhanden war.
Sie sprechen in Ihrem Artikel von „Abwehrmechanismen auf beiden Seiten". Das legt den Eindruck nahe, es habe eine Debatte oder einen Konflikt auf Augenhöhe, also mit gleichberechtigten Beteiligten gegeben. Doch nach den Schilderungen der beiden Eingeladenen und vielen Beiträgen auf facebook (u.a. dem Beitrag der Vorsteherin KFS) zu urteilen, war die Situation keineswegs so.
Es macht uns fassungslos, dass man 2 Expertinnen für diskriminierungssensible Sprache einlädt, 2 Expertinnen, die selbst Diskriminierungserfahrungen machen mussten, und sie dann erneut diskriminierenden Machtstrukturen aussetzt - und kaum jemand etwas sagt, auch wenn offenbar viele bemerkt haben, dass da etwas gewaltig schiefläuft.
Statt Augenhöhe bestand ein massives Ungleichgewicht, der Raum war voll von mit Privilegien ausgestatteten weißen Menschen gegenüber 2 Gästinnen, die von vornherein in die Situation gebracht wurden, ihre Arbeit verteidigen zu müssen. Das hat mit Ausgewogenheit und Augenhöhe nichts zu tun.
Alle, die mit Sprache arbeiten und sich belesen, informiert und tolerant fühlen, wie es die angeblich vielfältige Buchbranche gern tut, wissen doch um die Wirkung von Sprache, und wir alle wissen, dass rassistische und diskriminierende Sprache in Deutschland seit Generationen etabliert ist, in unzähligen Redewendungen, Begriffen, Spielen usw. Leider ist das stärker in unserer „DNA" (wenn überhaupt) oder vielmehr transgenerational weitergegeben als die gern beschworene Vielfalt.
Was macht es eigentlich so schwer, das anzuerkennen? Haben Verlage nicht den Anspruch, für alle zu schreiben und niemanden durch gewaltvolle Sprache zu verletzen?
V. Linnea und Jade S. Kye fragen in ihrem Video zu Recht, für wen geschrieben wird: Nur für die Lukasse und Maries oder auch für die Jades und Victorias in den Kitas und Schulen, die ohnehin kaum Repräsentation erleben, stattdessen aber tagtäglich diskriminierender Sprache und Rassismus ausgesetzt sind?
Ist es bei einer solchen Veranstaltung demzufolge nicht einfach auch eine Frage des Respekts zuzuhören, zu verstehen, etwas Demut und Bereitschaft zu zeigen, die eigene Haltung zu überdenken und auch zu revidieren, wenn sich herausstellt, dass man selbst rassistische Narrative bedient?
Ist es nicht möglich, die eigene Empfindlichkeit mal zurückzustellen? Wie kann man die eingeladenen Expertinnen auffordern zuzuhören, wo es doch eine Tatsache ist, dass in unserer weiß dominierten Gesellschaft sie diejenigen sind, von denen selbstverständlich erwartet wird, dass sie zuhören?
Wenn dann altbekannte Machtstrukturen reproduziert werden - (Stichwort: Wenn Männer mir die Welt erklären...) und im Verlauf der Diskussion wiederholt gewaltvolle Ausdrücke wie das N-Wort benutzt werden, können wir V. Linnea nur dafür bewundern und respektieren, dass sie unterbrochen und versucht hat, sich Gehör zu verschaffen.
Etliche Fragen stellen sich zudem zur Planung und Anlage einer solchen Diskussionsrunde:
Welches Ziel hatte man denn überhaupt für diese Runde? Wollte man etwas lernen, oder wollte man die Expertinnen dazu benutzen deutlich zu machen, wie spinnert Sensitivity Reading ist?
Wenn man ihnen eine Bühne hätte geben wollen, warum wird dann die Keynote von einer Person gehalten, die, wie V. Linnea und J.S. Kye berichten, das Sensitivity Reading bereits in ihrem Vortrag aus ihrer Sicht falsch darstellt und Positionen dazu bezieht, die die Expertinnen von vornherein in eine Rechtfertigung ihrer Arbeit bringen?
Damit schafft man schon eine schräge Ausgangssituation, die verunmöglicht, dass sie zunächst ihre Arbeit in einer wohlwollenden respektvollen Atmosphäre darstellen können.
Warum hat man nicht die beiden die Keynote halten lassen? Es ist für eine Veranstaltung doch entscheidend, mit welchem Ziel man sie plant, welche Diskussionsgrundlage, welchen Impuls man als Keynote entsprechend auswählt.
Wenn man Menschen einlädt, die Rassismus ausgesetzt sind, und das sind Women of colour in diesem Land, dann muss man, und das ist das Mindeste, dafür sorgen, dass sie einen sicheren Raum vorfinden, dass sie nicht in die Situation kommen, Grundsatzdebatten führen zu müssen und möglicherweise retraumatisiert zu werden.
Und weiter: Muss man nicht, und das ist doch selbstverständlich, für eine Moderation sorgen, bei der man 100 % sicher sein kann, dass sich die Gästinnen verstanden fühlen und sicher sein können, dass sie geschützt und unterstützt werden, die einschreitet, wenn sie herablassend und entwertend behandelt werden?
Wahrscheinlich setzen wir uns mit diesem Beitrag bei einigen in die Nesseln. Bitteschön. V. Linnea und Jade S. Kye sagten, dass sie hinterher auch Zuspruch bekommen hätten. Sie sagen auch, dass Solidarität hinter verschlossenen Türen nichts nutzt. Deshalb dieser Beitrag.
Unser Eindruck ist, dass klar gemacht wurde, wer die Deutungshoheit besitzt. Die Bereitschaft zu lernen, einzuräumen, dass man selbst blinde Flecken hat und noch nicht viel weiß über rassistische Strukturen, scheint minimal gewesen zu sein. Einfach beschämend.
Christiane Goebel, Supervisorin und Kommunikationsberaterin + Jörg Robbert, Inhaber der Brencher Buchhandlung Kassel