Grußwort zur Jahrestagung der IG BellSa

Karin Schmidt-Friderichs: "Wegen uns gibt es Geistesblitze und Aha-Momente"

26. Januar 2023
Redaktion Börsenblatt

Nach drei Krisenjahren und ohne ernsthafte Anzeichen der Entspannung – was brauchen wir, um "dennoch voll Tatendrang und irgendwie optimistisch ins neue Jahr zu starten?" Das fragt sich Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs in ihrem Grußwort zum Auftakt der Jahrestagung der IG BellSa in München. Sie unterstreicht die wichtige Rolle der Buchbranche und schließt mit einem Zitat aus Bonnie Garmus' Bestseller "Eine Frage der Chemie".

Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs bei ihrer Rede

Vor fast genau drei Jahren stand ich hier vor Ihnen und skizzierte eine Welt, in der jedes Jahr alle Jobs neu ausgeschrieben würden.

Ich wollte damit weder subtil den Kündigungsschutz aus den Angeln heben noch Ihre Loyalität zu den Unternehmen infrage stellen, in denen Sie arbeiten. Ich wollte Offenheit für das Neue und Veränderung als Chance thematisieren – und Mut machen.

Das Neue kam dann in ganz anderer Form und mit voller Wucht. Wenige Wochen später wurde zum ersten Mal die Leipziger Buchmesse abgesagt, und sehr kurze Zeit später, am Freitag, den 13. März beschloss die Regierung den ersten Lockdown.

Ich stand im Leipziger Hauptbahnhof, telefonierte mit meiner Stellvertreterin Annerose Beurich und fragte mich, wie die Branche, die ich so liebe, das überstehen wird und wie ich den Börsenverein, dem ich gerade mal vier Monate vorstand durch diese Krise führen sollte.

Gemessen an dem, was wir vermutlich alle in den Tagen nach diesem 13.3. dachten sind wir als Buchbranche gut durch die Zeit der Pandemie gekommen.

Das liegt nicht nur an den Menschen, die der Pandemie Lesevergnügen entgegengesetzt haben: unseren treuen Leser:innen, sondern auch an den engagierten und begeisterten Buchmenschen, die zwei Jahre lang kreativ und mit viel Einsatz Corona die Stirn geboten haben. Und dabei möchte ich dezidiert die Buchhändler:innen in meinen anerkennenden Dank einbeziehen: Durch verschlossene Ladentüren hindurch zu verkaufen – das muss Ihnen erstmal jemand nachmachen!

Uff, dachten wir zu Beginn des letzten Jahres, und glaubten, nun könne es nur besser werden.

Dann kam der 24. Februar …

Ich möchte an dieser Stelle für die große Solidarität und das herausragende Engagement dieser Branche für die Ukraine danken! Es ist bewegend, zu sehen, wie Sie helfen, während wir alle auf staatliche Hilfe für die durch die Energiekrise angeschlagenen Unternehmen der Branche gewartet haben.

Zum Jahreswechsel habe ich darüber nachgedacht, was Menschen befähigt, Krisen zu überstehen, trotz Krise kreativ zu sein, den Mut nicht zu verlieren. Und Mut brauchte das Verlegen ja schon in Zeiten, in denen das Papier noch zu haben – und finanzierbar – war und die Energie – aus Sicht der Nachhaltigkeit leider! – noch nicht so im Fokus stand.

Was also macht resilient? Wie meistert man Herausforderungen, die eigentlich zu groß für einen sind? Was brauchen wir, um nach drei Krisenjahren und ohne ernsthafte Anzeichen der Entspannung dennoch voll Tatendrang und irgendwie optimistisch ins neue Jahr zu starten?

Ich habe Menschen gefragt, die Krisen überstanden haben. Menschen, deren Mut und Belastbarkeit ich bewundere: Menschen, die als Stehaufmännchen gelten: Menschen, die die Gabe haben, das Glas immer mindestens halb voll zu sehen. Menschen, von denen ich wissen wollte, wie sie ihre Widerstandskraft stärken.

Was verbindet sie? Was kann man von ihnen lernen? Und ohne dass ich Psychologin wäre oder mich der neoliberalen Fraktion zurechne, die nun Resilienz von allen fordert, damit die Wirtschaft trotz Krise boomt, dachte ich: Vielleicht finden Sie unter den Puzzlesteinchen gegen die Erschöpfung auch etwas, das Ihnen hilft, 2023 trotzdem zu Ihrem Jahr zu machen.

Wegen uns – und nie zu vergessen: wegen unserer Autor*innen – gehen die Lichter auf den Nachttischen später aus.

Karin Schmidt-Friderichs

Impressionen von der Jahrestagung

Was also sagen die Widerstandsfähigen über sich? 

"Wäre dies der letzte Tag meines Lebens, würde ich tun wollen, was ich heute muss?" An dieser Frage hat Steve Jobs sein Leben ausgerichtet.

Von Warren Buffet ist überliefert, dass er mit einer List von fünf – und nicht mehr! – Prioritäten für die nächsten fünf Jahre arbeitete. Alles Weitere würde ablenken: Sich klare Ziele setzen. Und daran arbeiten.

Ganz viele der von mir Befragten thematisierten Selbstdistanz und Humor, also die Fähigkeit, über sich selbst und die Situation notfalls auch lachen zu können. Nicht zu viel grübeln, ins Tun kommen.

Und Entdramatisierung: eine gewisse Leichtigkeit. Gefühle zulassen, aber nicht darin hängen bleiben. An überwundene Nicht-Erfolge denken und sich eingestehen, wie sehr man daran gewachsen ist.

Gelassenheit. Mit sich selbst gnädig sein. Nett über sich denken. Sich nicht gegen das wehren, was ist.

Ambivalenz, Trauer, Kummer und Schmerz als zum Leben gehörend akzeptieren. Probleme auch als Chance sehen. Unterscheiden zwischen dem, was wir ändern können – und das aktiv angehen, und dem, was wir nicht ändern können  und das annehmen. Mut braucht Demut als Partner.

Oft hörte ich, es helfe, die kleinen Dinge zu sehen und sich in der Natur zu bewegen. Überhaupt: Bewegung. Spazieren, schwimmen, Jonglieren, Gartenarbeit, Handarbeit… die Liste der Vorschläge ist lang.

Spielen. Gerne auch mit Kindern.

Musik wurde häufig genannt, ein Lied singen – aus lauter Kehle, ins Konzert gehen.

Aber auch kreativ sein, etwas schaffen, ein Bild malen, einen Kuchen backen, Kochen, Selbstfürsorge, gut zu sich selbst sein, gesund leben.

Sich Pausen gönnen, Rückzugsräume, auch und gerade in Homeoffice-Zeiten, in denen die Arbeit buchstäblich bis in die Schlafzimmer vorgerückt ist. Ausreichend Schlaf, vielleicht meditieren. Atmen. Bewusste Langsamkeit üben.

Lesen. Zum Beispiel auch die alten Stoiker: Epiktet, Seneca, Marc Aurel. Aber auch einfach, um Distanz zu gewinnen, abzutauchen – wem sage ich das?

"Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele", sagt Pablo Picasso. Ausstellungen besuchen und sich darauf einlassen gerade, wenn man nicht genau versteht, was der oder die Künstler*in einem damit sagen will.

Gute Freundschaften pflegen und tragfähige Beziehungen, Hilfsbereitschaft, andere zu halten – und selbst gehalten zu werden. Um Unterstützung bitten. Wissen, dass man nicht allein ist.

Vertrauen können – und das üben.

Vorfreude empfinden und sich daran freuen.

Dankbarkeit kultivieren.

Und dann kam – vor allem von den Psychologen – ein Wort immer wieder: Selbstwirksamkeit: Das Wissen darum, etwas bewegen, etwas bewirken zu können. Für eine Sache stehen. Sich für Werte einsetzen. Für sie kämpfen. Einen Sinn sehen, in dem, was man tut. Dem eigenen Tun Bedeutung zusprechen. Relevant sein in dem, was man tut. Für sich selbst. Und für andere.

Jeder Besuch in einer Buchhandlung, jedes Beobachten der Leser*innen vor den Regalen lässt uns schließlich den Sinn dessen spüren, was wir tun.

Karin Schmidt-Friderichs

Wegen uns...

Aus diesen Gesprächen ging ich besonders beflügelt heraus. Denn wer, wenn nicht wir kann den Sinn des eigenen Tuns im wahrsten Sinne des Wortes mit den Händen fassen? Jeder Besuch in einer Buchhandlung, jedes Beobachten der Leser*innen vor den Regalen lässt uns schließlich den Sinn dessen spüren, was wir tun.

Wegen uns – und nie zu vergessen: wegen unserer Autor*innen – gehen die Lichter auf den Nachttischen später aus. Wegen uns fließen Tränen und bildet sich Gänsehaut. Wegen uns verlieben sich Menschen in Charaktere, die es gar nicht gibt, finden Menschen fiktive Freunde und Vorbilder, Orientierung und Halt.

Wegen uns gibt es Geistesblitze und Aha-Momente. Wegen uns wagen sich Menschen ans Kochen von neuen Gerichten oder trauen sich in Länder zu reisen, die sie nicht kennen und deren Sprache sie nicht sprechen.

Wegen uns ändern Menschen ihre Haltung, Lebensweise oder Gewohnheiten. Wegen uns gewinnen gesellschaftliche Debatten an Tiefgang und Argumente an Stichhaltigkeit. Wegen uns bleiben Schüler*innen nicht sitzen.

Wir verhindern Pilzvergiftung und Engstirnigkeit. Und nicht selten steht wegen der Bücher, die wir in die Welt bringen einem Menschen, der eben noch traurig oder tierisch vernünftig war ein freches Schmunzeln ins Gesicht geschrieben.

Wenn wir uns die Bestseller des vergangenen Jahres ansehen, dann ist unsere Branche der Spiegel der Gesellschaft. "Du darfst nicht alles glauben, was du denkst" als Bericht über eine Depression – aber auch der Heilung.

Und "eine Frage der Chemie" als wütend-trotzig kämpferisches Buch, das durch und durch mit Humor gewürzt ist, Trost und Zuversicht gibt.

Ein Mensch, den ich ganz besonders für seine Resilienz bewundere, hat mir auf meine Frage nach dem Geheimnis ebendieser Widerstandskraft mit einem Zitat aus der "Frage der Chemie" geantwortet. Und mit diesem Zitat möchte ich schließen:

"Hallo", sagte Elizabeth einige Wochen später, "ich bin Elizabeth Zott, und Sie sind bei 'Essen um sechs'."

Sie stand hinter einem Schneidebrett, vor sich einen Berg Gemüse in den verschiedensten Farben. "Im Mittelpunkt unseres heutigen Abendessens steht die Eierpflanze", sagte sie und nahm eine große lila Frucht in die Hand, "besser bekannt als Aubergine. Die Aubergine ist ausgesprochen nahrhaft, kann aber aufgrund ihrer phenolischen Verbindungen leicht bitter schmecken. Gegen die Bitterkeit…"

Sie verstummte jäh, drehte die Aubergine in den Händen, als wäre sie ganz und gar nicht zufrieden. "Lassen Sie es mich anders formulieren. Um der Aubergine die Bitterstoffe zu entziehen ..."

Wieder stockte sie und atmete laut aus. Dann warf sie die Aubergine zur Seite.

"Vergessen Sie`s", sagte sie. "Das Leben ist bitter genug."

Sie drehte sich um, öffnete einen Schrank und nahm andere Zutaten heraus. "Ich hab‘s mir anders überlegt", sagte sie. "Wir machen Brownies."

Für das noch junge neue Jahr wünsche ich Ihnen Sinn und Selbstwirksamkeit, Humor und Heiterkeit, vielversprechende Manuskripte und ab und zu eine süße Planänderung …

Ich danke Ihnen!