FAQ: Scheinselbständigkeit im Bildungsbereich

"Nutzen Sie die zweijährige Übergangszeit gut"

13. März 2025
Redaktion Börsenblatt

Durch ein Urteil des Bundessozialgerichts haben sich die Beurteilungskriterien für eine Scheinselbständigkeit bei Honorar-Lehrkräften massiv verschärft. Kurz vor der Wahl wurde vom Bundestag allerdings noch eine Übergangsregelung beschlossen. Was sollten Fachverlage, Buchhandel und Bildungsanbieter jetzt tun? Ein FAQ von Monika Kolb, Bildungsdirektorin im Börsenverein und Geschäftsführerin des Mediacampus Frankfurt.

Monika Kolb

Monika Kolb ist seit 2007 Bildungsdirektorin des Börsenvereins und Geschäftsführerin des Mediacampus Frankfurt. Davor hat sie fünf Jahre lang in Marketing und Vertrieb bei Provadis geleitet - einem Bildungsdienstleister für die Chemie- und Pharmabranche.

Ohne eine langfristige Lösung müssten wir mit deutlichen Einschränkungen in der Vielfalt unserer Bildungsangebote rechnen.

Monika Kolb, Bildungsdirektorin des Börsenvereins

Der Bundestag hat am 30. Januar 2025 eine Übergangsregelung zur Scheinselbständigkeit im Bildungsbereich beschlossen, die bis Ende 2026 gilt. Was bedeutet das für Bildungsanbieter in der Buch- und Medienbranche konkret?

Die Übergangsregelung verschafft uns vor allem eines: Zeit. Zeit, die wir gut nutzen sollten, um angemessene Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Im Kern bedeutet die Regelung, dass freiberuflich tätige Lehrende weiterhin auf selbständiger Basis beschäftigt werden können, ohne dass Bildungseinrichtungen Nachforderungen von Sozialbeiträgen befürchten müssen. Dies gilt allerdings nur unter zwei Voraussetzungen:

  • Beide Seiten müssen bei Vertragsschluss von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sein,
  • und die lehrende Person muss der Regelung ausdrücklich zustimmen.

Für die Bildungsanbieter in unserer Branche – Fachverlage, Buchhandlungen, Medienhändler und natürlich spezialisierte Bildungseinrichtungen – bedeutet dies eine wertvolle Planungssicherheit bis Ende 2026. Diese Zeit sollten wir aktiv nutzen, um zukunftsfähige Modelle zu entwickeln.

Ohne die Möglichkeit, Bildungsangebote auch durch flexibel einsetzbare, freie Dozierende platzieren zu können, ist eine breite Bildungslandschaft stark gefährdet.

Monika Kolb, Bildungsdirektorin des Börsenvereins und Geschäftsführerin des Mediacampus Frankfurt

Wie hat sich die Thematik der Scheinselbständigkeit entwickelt und woraus hat sich die zuvor beschriebene Übergangsregelung ergeben?

In meinen drei Jahrzehnten im Bildungsbereich habe ich mehrere Anpassungen bei der rechtlichen Einordnung und Beurteilung von Vertragsverhältnissen freier Mitarbeitender begleitet. Die aktuelle Entwicklung nach dem Herrenberg-Urteil von 2022 stellt jedoch eine besondere Herausforderung dar, da sie grundlegende Aspekte der Zusammenarbeit mit freiberuflich Lehrenden neu definiert.

Bisher stand bei der Differenzierung, ob ein Vertragsverhältnis als freiberufliche Tätigkeit oder als sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu bewerten ist, die Frage im Mittelpunkt, ob eine Weisungsgebundenheit und eine Eingliederung in den Betrieb bestehen. 

Das Herrenberg-Urteil hingegen stellt vorrangig „unternehmerische Merkmale“ wie eigene Betriebsmittel, eigene Kund:innenakquise oder das Tragen echter wirtschaftlicher Risiken in den Mittelpunkt der Bewertung. Diese Kriterien sind in der Bildungsarbeit faktisch nicht umzusetzen, da Lehrende primär ihre Expertise einbringen, in einem anderen Unternehmen arbeiten, sich als selbständig Tätige verstehen und im seltensten Fall einen eigenständigen Geschäftsbetrieb mit angestellten Mitarbeitenden mitbringen.

Über die Jahre haben wir regelmäßig unseren Umgang mit freien Referentinnen und Referenten, unsere Verträge und Prozesse angepasst. Die aktuelle Situation erfordert nun wieder ein proaktives Handeln aller Beteiligten, um die bewährte Vielfalt unserer Bildungsangebote zu erhalten. Denn ohne die Möglichkeit, Bildungsangebote auch durch flexibel einsetzbare, freie Dozierende platzieren zu können, ist eine breite Bildungslandschaft stark gefährdet.

Hintergrund: Das "Herrenberg-Urteil"

Das "Herrenberg-Urteil" vom 28. Juni 2022 (Aktenzeichen.: B 12 R 3/20 R) stellt die Bildungsbranche vor echte Herausforderungen: Das Bundessozialgericht hat in diesem Urteil eine Klavierlehrkraft an der städtischen Musikschule Herrenberg als abhängig beschäftigt eingestuft. Zentral für die Beurteilung war der Grad der betrieblichen Eingliederung der Lehrkraft in die Organisationsstruktur der Musikschule.

Als Reaktion darauf passten die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung (GKV-Spitzenverband, Deutsche Rentenversicherung Bund und Bundesagentur für Arbeit) ihre Beurteilungskriterien für die versicherungsrechtliche Einstufung von Lehrenden an. Diese verschärften Kriterien traten zum 1. Juli 2023 in Kraft und führten zur grundlegenden Neubewertung vieler bestehender Honorarverhältnisse.

Welche Risiken sollten Bildungsanbieter kennen, die sich mit diesem Thema bisher nicht auseinandergesetzt haben?

Es gibt einige wichtige rechtliche Aspekte, die Bildungsanbieter beachten sollten. Viele in unserer Branche – besonders Fachverlage, Medienhändler oder Buchhandlungen, die regelmäßig oder gelegentlich Bildungsveranstaltungen durchführen – sind sich der verschiedenen rechtlichen Dimensionen möglicherweise nicht vollständig bewusst.

  • Im Sozialrecht können Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von etwa 40 Prozent auf die gezahlten Honorare für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren rückwirkend entstehen, zuzüglich Säumniszuschlägen. 
  • Im Arbeitsrecht können Ansprüche auf Zahlung von Urlaubsentgelt oder auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall relevant werden. 
  • Steuerrechtlich kann die Pflicht zum nachträglichen Lohnsteuerabzug bestehen.
  • Nicht zu unterschätzen ist auch die strafrechtliche Komponente: Das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen ist nach Paragraf 266a StGB strafbewehrt.

Die neue Übergangsregelung bietet bezüglich all dieser Ansprüche eine wichtige Absicherung im Falle von Sozialversicherungsprüfungen bis zum 31. Dezember 2026 – allerdings nur, wenn die lehrende Person zustimmt und wenn bei Vertragsschluss beide Seiten von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sind. Deshalb ist es wichtig, jetzt aktiv zu werden und die notwendigen Schritte einzuleiten.

Im Sozialrecht können Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von etwa 40 Prozent auf die gezahlten Honorare entstehen - rückwirkend für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren.

Monika Kolb

Gibt es konkrete Empfehlungen, was Bildungsanbieter in der Buch- und Medienbranche in den kommenden zwei Jahren tun sollten?

Nutzen Sie die zweijährige Übergangszeit gut. Diese Zeit bietet die Chance, in Ruhe passende Lösungen zu entwickeln. Konkret empfehle ich folgende Schritte:

Erstens:
Holen Sie von Ihren freiberuflich tätigen Lehrenden Zustimmungserklärungen zur Übergangsregelung ein. Denn in der Regel sind beide Parteien bei Vertragsschluss von einer freiberuflichen Beschäftigung ausgegangen und haben diese auch sehr bewusst so gewählt. Achten Sie auf eine sorgfältige Formulierung und dokumentieren Sie den Prozess gut.

Zweitens:
Überprüfen Sie Ihre aktuelle Vertragsgestaltung und Zusammenarbeitspraxis. Welche Anpassungen könnten sinnvoll sein, um eine Eingliederung in den eigenen Betrieb auf jeden Fall zu vermeiden? So sollten Sie

  • auf verpflichtende Teilnahmen an internen Besprechungen verzichten, 
  • den Lehrenden eine hohe eigene Gestaltungsfreiheit bei den Bildungsformaten einräumen, 
  • zeitlich auf die Verfügbarkeit der Lehrenden stark eingehen, um jede Weisungsgebundenheit des Lehrenden in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht auf jeden Fall zu vermeiden.

Ob die Überbetonung der unternehmerischen Freiheit in der Wertungspraxis der Sozialversicherungsträger weiter fortbesteht oder eine Anpassung an die betrieblichen Realitäten erfolgt, die der Weiterbestand unserer breiten Bildungslandschaft erfordert, bleibt abzuwarten. 

Jedenfalls lohnt es sich in der Übergangszeit auch zu prüfen, wie den Lehrenden mehr unternehmerische Freiheit eingeräumt werden kann. Dies zu realisieren ist eine echte Herausforderung und dies wiederum ist der Grund, weshalb die Interessenvertretung unsererseits in der Übergangszeit sehr aktiv weiterbetrieben wird.

Drittens:
Denken Sie über verschiedene Beschäftigungsmodelle nach. 

  • Für regelmäßig wiederkehrende Bildungsangebote könnte eine Festanstellung sinnvoll sein, 
  • während für spezielle Themen die selbständige Tätigkeit weiterhin die beste Lösung darstellt. 
  • Auch Kooperationen mit anderen Bildungsträgern können interessante Optionen sein.

Der Börsenverein hat sich für eine Lösung eingesetzt. Wie sah dieses Engagement konkret aus?

Wir haben frühzeitig die Bedeutung dieser Thematik für die Bildungsangebote unserer Branche erkannt. Im Juni 2024 haben wir uns nicht nur mit der Bundesagentur für Arbeit, namentlich Frau Andrea Nahles, in Verbindung gesetzt, sondern auch mit der Deutschen Rentenversicherung Bund und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Vor allem im Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Rentenversicherung Bund wurde deutlich, wie wenig Kenntnis über die konkreten Anforderungen im Bereich der Bildung dort vorhanden war.

Parallel zu anderen Verbänden sind wir aktiv geworden. Ich selbst arbeite in einer Fachgruppe beim Deutschen Kulturrat zu diesem Thema mit und habe mich auch im Verband Deutscher Privatschulen engagiert und für den Börsenverein das Thema begleitet. Wir haben konstruktive Gespräche mit politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern geführt und unsere fachliche Expertise in die Arbeitsgruppen der Fachgespräche eingebracht.

Wie wird der Börsenverein das Thema in den kommenden Jahren weiter begleiten?

Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir als Börsenverein informieren wollen. Auf der politischen Ebene bleiben wir ein konstruktiver Teil der Fachgespräche, die den Prozess begleiten, und setzen uns für eine langfristige Lösung ein, die die besonderen Anforderungen des Bildungsbereichs berücksichtigt.

Besonders jetzt nach der Bundestagswahl werden wir uns hier einbringen.

Für unsere Mitglieder – Fachverlage, Buchhandlungen, Fachmedienhändler und andere Bildungsanbieter – werden wir zum Thema informieren und den aktuellen Stand der Entwicklungen kommunizieren. Wir werden die Veränderungen beobachten und darüber berichten, welche Auswirkungen sie auf die Bildungsangebote in unserer Branche haben könnten.

Welche Veränderungen könnten auf die Bildungslandschaft zukommen, wenn keine langfristige Lösung gefunden wird?

Ohne eine langfristige Lösung müssten wir mit deutlichen Einschränkungen in der Vielfalt unserer Bildungsangebote rechnen. Viele Bildungsanbieter in der Buch- und Medienbranche könnten ihre Bildungsaktivitäten reduzieren oder ganz einstellen müssen, da eine Festanstellung aller Lehrenden wirtschaftlich oder rein verwaltungstechnisch nicht umsetzbar ist.

Besonders betroffen wären spezialisierte Bildungsformate - beispielsweise Fachseminare zu spezifischen Themen wie Urheberrecht im digitalen Raum, neue Geschäftsmodelle im Buchhandel oder Veranstaltungen mit Autorinnen und Autoren. Hier ist der Einsatz von Fachexpertinnen und Fachexperten auf Honorarbasis oft die einzig sinnvolle Option. Auch die branchenspezifische Weiterbildung zu aktuellen Entwicklungen, etwa zu neuen digitalen Formaten, KI oder rechtlichen Veränderungen, wäre schwieriger umzusetzen.

Dies würde die Weiterbildungsmöglichkeiten für alle Branchenmitglieder einschränken und könnte auch Auswirkungen auf die Innovationsfähigkeit haben. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam praktikable Lösungen finden werden. Die jetzige Übergangsregelung zeigt, dass die Politik die Bedeutung einer vielfältigen Bildungslandschaft anerkennt.

Unser Ziel ist es, Modelle zu entwickeln, die sowohl den speziellen Anforderungen des Bildungsbereichs als auch dem Bedürfnis nach sozialer Absicherung gerecht werden.

Monika Kolb

Gibt es die Perspektive, dass nach 2026 weiterhin eine selbständige Lehrtätigkeit möglich sein wird?

Ich sehe positive Perspektiven. In den politischen Diskussionen nehme ich ein wachsendes Verständnis dafür wahr, dass der Bildungsbereich besondere Rahmenbedingungen benötigt. In den Arbeitsgruppen des Fachgesprächsprozesses werden bereits verschiedene konstruktive Ansätze diskutiert – von der Einführung von Positivkriterien für selbständige Lehrtätigkeiten bis hin zu speziellen Regelungen für nebenberuflich Lehrende.

Wichtig wird sein, dass wir als Bildungsbranche gemeinsam agieren und praxisnahe Lösungsvorschläge einbringen. Dabei berücksichtigen wir selbstverständlich auch die berechtigten Interessen der Sozialversicherung und den Schutz der Lehrenden. Unser Ziel ist es, Modelle zu entwickeln, die sowohl den speziellen Anforderungen des Bildungsbereichs als auch dem Bedürfnis nach sozialer Absicherung gerecht werden.

Die nächsten zwei Jahre bieten uns die Chance, gemeinsam an zukunftsfähigen Lösungen zu arbeiten. Wenn wir diese Zeit nutzen, bin ich zuversichtlich, dass wir auch nach 2026 eine vielfältige Bildungslandschaft mit freiberuflich tätigen Lehrenden gestalten können – zum Nutzen unserer Branche und der Qualität unserer Bildungsangebote.