Zeitachse: Scheinselbstständigkeit im Bildungsbereich

Das "Herrenberg-Urteil" markiert einen Wendepunkt

13. März 2025
Redaktion Börsenblatt

Freie Referent:innen oder Lehrkräfte zu engagieren: Das ist bei Bildungsanbietern üblich, auch in der Buchbranche. Schärfere Kriterien für die Scheinselbständigkeit bringen das Modell ins Wanken. Wie und warum hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert? Ein Blick auf die Entwicklung der Rechtslage, zusammengestellt von Monika Kolb, Bildungsdirektorin des Börsenvereins.

Die Entwicklung der Rechtsprechung

Die rechtliche Beurteilung von freiberuflich tätigen Lehrenden im Bildungsbereich hat in den letzten Jahrzehnten einen markanten Wandel erfahren

  • Von 1979 bis 2007 etablierte das Bundessozialgericht (BSG) eine klare Linie: Dozentinnen und Dozenten, die zeitlich und sachlich begrenzte Lehraufträge ohne Einbindung in ein klassisches Bildungs- und/oder Schulunternehmen wahrnahmen, wurden in der Regel als selbständig tätig eingestuft. Diese Rechtsprechung schuf über viele Jahre hinweg Rechtssicherheit für Bildungseinrichtungen und freiberuflich tätige Lehrende.
  • 2018 wurde diese etablierte Rechtsauffassung noch 2018 bestätigt, als das BSG im sogenannten "Gitarrenlehrerurteil" die Selbständigkeit einer Lehrkraft bekräftigte. 
  • Am 28. Juni 2022 kam jedoch der entscheidende Wendepunkt mit dem "Herrenberg-Urteil"  (Az.: B 12 R 3/20 R). In diesem Fall stufte das BSG eine Klavierlehrkraft an der städtischen Musikschule Herrenberg als abhängig beschäftigt ein. Zentral für die Beurteilung war der Grad der betrieblichen Eingliederung der Lehrkraft in die Organisationsstruktur der Musikschule.
  • Am 4. Mai 2023 folgte eine unmittelbare Reaktion auf dieses Urteil: Damals passten die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung (GKV-Spitzenverband, Deutsche Rentenversicherung Bund und Bundesagentur für Arbeit) ihre Beurteilungskriterien für die versicherungsrechtliche Einstufung von Lehrenden an. Diese verschärften Kriterien traten zum 1. Juli 2023 in Kraft und führten zu einer grundlegenden Neubewertung vieler bestehender Honorarverhältnisse.

Begriffsklärung: Wer sind die betroffenen Lehrenden?

Unter den Begriff der Lehrenden, die von der Problematik der Scheinselbständigkeit betroffen sind, fallen ausnahmslos alle Personen, die in Bildungsformaten tätig werden – unabhängig von ihrer formalen Bezeichnung oder ihrem sonstigen Beschäftigungsstatus. Dies umfasst 

  • Dozentinnen und Dozenten, 
  • Referentinnen und Referenten, 
  • Kursleiterinnen und Kursleiter, 
  • Trainerinnen und Trainer, 
  • Lehrbeauftragte, Honorarlehrkräfte sowie Lehrpersonal in jeglichem Bildungskontext. 
  • Die Problematik betrifft ebenso Rentnerinnen und Rentner, hauptberuflich anderweitig Beschäftigte, die nebenberuflich lehren, als auch Personen, die ausschließlich von ihrer Lehrtätigkeit leben.

Gemeinsames Merkmal ist, dass diese Personen traditionell als Honorarkräfte auf selbständiger Basis für Bildungseinrichtungen tätig waren. Ob in der Erwachsenenbildung, an Volkshochschulen, in der beruflichen Fort- und Weiterbildung, im Sprachunterricht, in Musikschulen oder anderen Bildungskontexten – die veränderte Rechtsprechung und Verwaltungspraxis betrifft alle diese Bereiche und alle Formen lehrender Tätigkeit gleichermaßen.

Die neuen Beurteilungskriterien und ihre Problematik

Nach den bisherigen Kriterien galt eine lehrende Person als abhängig beschäftigt, wenn bestimmte Merkmale vorlagen: die Pflicht zur persönlichen Arbeitsleistung, vorgegebene Unterrichtszeiten und -räume, fehlender Einfluss auf die zeitliche Gestaltung der Tätigkeit, Meldepflichten bei Unterrichtsausfall, Regelungen für Ausfallhonorare, Verpflichtungen zur Teilnahme an Konferenzen oder zur Durchführung von Schülerveranstaltungen und auch das unternehmerische Tätigsein am Markt. Diese und einige andere Kriterien wurden in einer Art Gesamtschau bewertet und anhand derer erfolgte die Einordnung des Vertragsverhältnisses.

Die Spitzenorganisationen der Sozialversicherungen haben infolge des „Herrenberg-Urteils“ die Auslegung der Kriterien dahingehend geändert, als dass das Kriterium der "unternehmerischen Eigenschaft" als absolut zentral gewertet wird. Diese Neuauslegung führt dazu, das bei Nichtvorliegen dieses Kriteriums eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als zwingend gegeben angesehen werden soll – unabhängig von einer Gewichtung der anderen bislang geltenden Kriterien. 

Das Kriterium der „unternehmerischen Eigenschaft“ erfordert den Nachweis echter unternehmerischer Chancen und Risiken sowie einer eigenen betrieblichen Organisation. Liegt also diese Eigenschaft nicht vor,  wird eine abhängige Beschäftigung angenommen – auch wenn die Tätigkeit inhaltlich weisungsfrei ausgeübt wird und die anderen Kriterien für eine Selbständigkeit sprechen.

Diese Neuausrichtung trifft den Kern des bewährten Modells freiberuflich tätiger Lehrender im Bildungsbereich. Die Rolle der Lehrenden als "Erfüllungsgehilfen" der Bildungseinrichtung wird nun stärker betont, obwohl die pädagogische Freiheit und die oft hochspezialisierte Fachexpertise der Dozentinnen und Dozenten gerade für die Qualität und Vielfalt des Bildungsangebots wesentlich sind.

Die Krise in der Bildungsbranche

Die tatsächliche Tragweite der neuen Beurteilungspraxis wurde erst im Laufe des Jahres 2023 und Anfang 2024 sichtbar, als die Deutsche Rentenversicherung bei Betriebsprüfungen und Statusfeststellungsverfahren die verschärften Kriterien konsequent anwendete. Dies führte zu einer dramatischen Zunahme von Einstufungen als abhängige Beschäftigungsverhältnisse und in vielen Fällen zu erheblichen Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen.

Die Bildungsbranche reagierte mit einer breiten Mobilisierung. Bildungsträger aller Art – von Volkshochschulen über Musikschulen bis zu privaten Weiterbildungsanbietern – sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Zahlreiche Fachverbände, darunter der Bundesverband betriebliche Weiterbildung (Wuppertaler Kreis), der Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP) und auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, schlossen sich zu gemeinsamen Initiativen zusammen und wandten sich mit dringenden Appellen an die Politik.

In diesen Stellungnahmen wurde eindringlich darauf hingewiesen, dass die strikte Anwendung der neuen Auslegung der Kriterien, sprich die Überbetonung der unternehmerischen Freiheit, das Ende nahezu aller etablierter Bildungsangebote bedeuten würde. 

Der Börsenverein warnte in seinen Schreiben vom Juni 2024 ausdrücklich vor den drastischen Folgen: Wenn freiberufliche Dozententätigkeiten praktisch unmöglich gemacht würden, müssten sämtliche Bildungsanbieter ihr Angebot drastisch reduzieren oder ganz einstellen. Er trat in einen direkten Kontakt mit der Bundesagentur für Arbeit, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie der Deutschen Rentenversicherung.

Neben offenen Briefen und Petitionen leisteten nahezu alle Verbände, die im Bereich der Bildung tätig sind, intensive Lobbytätigkeiten.

Die Fachgespräche als Brückenlösung

Als Reaktion auf die massive Kritik und den wachsenden politischen Druck initiierte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen strukturierten Dialogprozess. Am 14. Juni 2024 fand das erste Fachgespräch statt, bei dem Vertreter der Ministerien, der Sozialversicherungsträger und der Bildungsverbände zusammenkamen. In diesem Rahmen wurden Arbeitsgruppen für verschiedene Bildungsbereiche gebildet. 

Zudem wurde ein Moratorium für Betriebsprüfungen bis zum 15. Oktober 2024 vereinbart, und bereits laufende Widerspruchsverfahren in Statusfeststellungsverfahren wurden vorläufig ruhend gestellt.

In den folgenden Monaten arbeiteten die Fachgruppen intensiv an spezifischen Lösungsansätzen für ihre jeweiligen Bildungsbereiche. Beim zweiten Fachgespräch am 8. Oktober 2024 wurden erste Ergebnisse präsentiert und eine abgestufte Prüfungspraxis vereinbart: Für Fälle bis zum 31. Dezember 2022 sollten weiterhin die alten Kriterien gelten, während neuere Fälle ab dem 1. Januar 2023 zunächst zurückgestellt werden sollten. 

Bemerkenswert war die Erklärung der Deutschen Rentenversicherung, dass keine Reduzierung des Bildungsangebots beabsichtigt sei, man sich jedoch an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gebunden sehe. Der Fachgesprächsprozess wurde bis Januar 2025 verlängert, und erstmals wurde die Möglichkeit eines gesetzgeberischen Eingriffs konkret erörtert.

Das dritte Fachgespräch am 22. Januar 2025 brachte entscheidende Fortschritte. Die Berichte aus den Arbeitsgruppen zeigten deutlich, dass die große Diversität des Bildungsmarktes eine differenzierte Betrachtung erfordert. Es wurde erkannt, dass verschiedene Bildungskontexte unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe benötigen. 

Die Deutsche Rentenversicherung bot an, für bestimmte Kursmodelle und Konzepte gutachterliche Stellungnahmen abzugeben, die Bildungsträgern mehr Rechtssicherheit bieten könnten. Der wichtigste Durchbruch war jedoch die Vorstellung einer geplanten gesetzlichen Übergangsregelung, die kurz darauf vom Bundestag beschlossen werden sollte.

Die Risikodimension der Scheinselbständigkeit

Die gravierenden Risiken einer Einstufung als Scheinselbständig erstrecken sich über mehrere Rechtsgebiete und erklären die existenzielle Sorge vieler Bildungsträger und Bildungsanbieter. 

  • Im Sozialrecht drohen Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von etwa 40 Prozent auf die gezahlten Honorare für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren. 
  • Hinzu kommen Säumniszuschläge von einem Prozent pro Monat. 
  • Bei besonders schwerwiegenden Fällen, etwa bei Vorliegen einer Nettolohnabrede oder bei bedingtem Vorsatz, kann sich der Rückforderungszeitraum sogar auf bis zu 30 Jahre verlängern.

Auch im Arbeitsrecht ergeben sich weitreichende Konsequenzen: 

  • Freiberuflich tätige Lehrende können rückwirkend Urlaubsansprüche geltend machen, die nicht der Verjährung unterliegen. 
  • Zudem bestehen Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. 
  • Besonders problematisch können sich Kettenbefristungen erweisen, die bei Umwandlung in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis möglicherweise unwirksam sind und zu einem ungekündigten Arbeitsverhältnis führen.

Im Steuerrecht entsteht die Pflicht zum nachträglichen Lohnsteuerabzug. 

Die vielleicht bedrohlichste Dimension liegt jedoch im Strafrecht: Bildungsträger und deren Verantwortliche können sich wegen des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen nach Paragraf 266a StGB strafbar machen, unter Umständen kommt auch der Vorwurf der Steuerhinterziehung in Betracht.

Diese Risiken unterstreichen, warum eine rechtssichere Lösung für den Bildungsbereich so dringend erforderlich war und warum die nun beschlossene Übergangsregelung als wichtiger Schritt zur Entlastung der Bildungslandschaft gesehen wird.

Die gesetzliche Übergangsregelung: Paragraf 127 SGB IV

Nach intensiven Verhandlungen beschloss der Deutsche Bundestag am 30. Januar 2025 eine Übergangsregelung, der der Bundesrat am 14. Februar 2025 zustimmte. Diese wurde als Paragraf 127 SGB IV im Rahmen des "Sechsten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR" verankert.

Die Regelung sieht vor, dass bei Lehrtätigkeiten, die von einem Versicherungsträger als abhängige Beschäftigung eingestuft werden, die Versicherungspflicht erst ab dem 1. Januar 2027 eintritt – allerdings nur unter zwei Bedingungen: 

  • Erstens müssen die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sein, und 
  • zweitens muss die lehrende Person dieser Regelung ausdrücklich zustimmen.

Besonders wichtig ist, dass die Regelung auch präventiv wirkt: Selbst ohne eine formelle Feststellung durch einen Versicherungsträger tritt bis zum 31. Dezember 2026 keine Versicherungs- und Beitragspflicht ein, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. 

Die betroffenen Lehrenden gelten in diesem Zeitraum als selbständig im Sinne der Rentenversicherungspflicht für selbständige Lehrer nach Paragraf 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI oder – bei Erfüllung entsprechender Voraussetzungen – nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz.

In der praktischen Umsetzung bestehen allerdings noch einige Unklarheiten. Die Form der Zustimmung durch die lehrende Person ist gesetzlich nicht näher bestimmt, wobei aus Beweisgründen eine schriftliche Erklärung empfehlenswert erscheint. Auch die Frage, ob die einmal erteilte Zustimmung später widerrufen werden kann, ist nicht explizit geregelt. Bei gemischten Tätigkeiten kann zudem die Einstufung als "Lehrtätigkeit" im Sinne der Übergangsregelung fraglich sein.

Praktische Empfehlungen und Zukunftsperspektiven

Für Bildungseinrichtungen ergeben sich aus der aktuellen Rechtslage konkrete Handlungsempfehlungen. Unmittelbar nach Inkrafttreten der Übergangsregelung sollten sie von allen aktuell tätigen freiberuflichen Lehrenden Zustimmungserklärungen einholen, idealerweise im Vorfeld der nächsten zu erwartenden Betriebsprüfung. Dies sichert den Bestandsschutz bis Ende 2026. Bei Lehrenden, die ihre Zustimmung verweigern, muss die weitere Zusammenarbeit kritisch überprüft werden, da für diese Fälle die Übergangsregelung nicht greift.

Der Fachgesprächsprozess wird – möglicherweise unter verändertem Namen – fortgeführt werden. Die Deutsche Rentenversicherung hat signalisiert, für bestimmte von den Arbeitsgruppen entwickelte Kurs- und Organisationsmodelle gutachterliche Stellungnahmen abzugeben, die als Orientierungshilfe dienen können.

Langfristig steht eine grundlegende Reform des Statusfeststellungsverfahrens auf der politischen Agenda. In verschiedenen Wahlprogrammen für die Bundestagswahl fanden sich entsprechende Ansätze. Diskutiert werden unter anderem die Einführung von Positivkriterien für selbständige Tätigkeiten, eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Schutzbedürftigkeit der jeweiligen lehrenden Person, spezifische Regelungen für nebenberufliche Lehrtätigkeiten sowie eine mögliche Ausweitung der Übungsleiterregelung auf weitere Bildungsbereiche.

Die beschlossene Übergangsregelung verschafft der Bildungsbranche die dringend benötigte Atempause. Sie bietet die Chance, sowohl auf Ebene der einzelnen Bildungseinrichtungen als auch auf politischer Ebene an tragfähigen, langfristigen Lösungen zu arbeiten, die den Besonderheiten des Bildungssektors gerecht werden und die Vielfalt des Bildungsangebots in Deutschland auch für die Zukunft sichern.