Benedict Wells: "Lesen kann retten"
Im Gespräch über sein neuestes Buch erzählt Benedict Wells offen über seine Schreibprozesse und Erfahrungen – und hat einen Tipp für Buchhändler:innen.
Im Gespräch über sein neuestes Buch erzählt Benedict Wells offen über seine Schreibprozesse und Erfahrungen – und hat einen Tipp für Buchhändler:innen.
Zu Beginn von »Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben« erfahren die Leser:innen sehr viel über die Person des Ich-Erzählers. Gleichzeitig schreiben Sie, dass ein Stilmittel in Romanen der unzuverlässige Erzähler sei, und warnen: »Trauen Sie mir nicht« … Wie viel von Ihnen steckt in diesem erzählenden Ich?
Es ist ein sehr persönliches Buch, aber letztlich sind das alles Bleistiftskizzen, die kein farbiges Bild und erst recht keine Autobiografie ergeben. Ich hätte auch viel mehr über mein Aufwachsen und mich schreiben können, aber dann wäre es ein anderes Buch geworden. Dieses hier ging um Literatur und Schreiben, und da wollte ich vor allem Lebensstationen und Weggabelungen schildern, die mich als Autor geprägt haben. Die Frage ist aber auch, wie sehr man seiner eigenen Erinnerung trauen kann. Unser Gedächtnis ist ein Geschichtenerzähler; die Wirklichkeit verändert sich im Rückblick immer wieder – je nachdem, wo man gerade steht.
Wann ist das selbst Erlebte für das Schreiben förderlich und wann hinderlich?
Generell nehme ich am liebsten selbst erlebte Gefühle und Erfahrungen und schreibe damit etwas, das mir so nie passiert ist. Am Ende ist es aber auch eine Frage des richtigen Abstands. Als junger Autor bin ich oft daran gescheitert, junge Charaktere authentisch zu schildern, ich war zu nah dran. Erst bei »Hard Land« habe ich gefühlt, dass die Entfernung stimmt. Das gleiche mit der bipolaren Krankheit einer Figur in »Fast genial«. Das war mein Thema als naher Angehöriger, doch ich hatte damals nicht den richtigen Abstand und noch nicht die Worte für diesen Schmerz, weshalb das Buch nicht so tief wurde, wie ich es gern gehabt hätte. Aus dem gleichen Grund hätte ich auch nicht »Vom Ende der Einsamkeit« schreiben können, wenn ich selbst eine Waise gewesen wäre, das Thema wäre mir mit Mitte 20 zu nahe gewesen. Stattdessen habe ich damals meine eigenen Erfahrungen genommen und damit ein Buch über den Verlust der Eltern geschrieben.
Sie sind ein großer Cineast und kennen Tausende von Filmen – kommt es vielleicht daher, dass Sie filmisch schreiben und denken, Cuts in Szenen setzen etc.?
Ich liebe Filme, doch es gibt auch große Unterschiede zu Romanen – aber tatsächlich sind Schnitte etwas, bei dem Literatur vom Kino lernen kann. Ein Film wird immer im Schneideraum entschieden, es ist unglaublich, wie sehr er sich verändert, wenn man manche Szenen früher beendet oder weglässt. Das Gleiche gilt für literarische Texte: Wie steigen wir ein, an welchem Punkt hören wir auf? Folgt auf eine stille Szene eine weitere stille Szene oder sollte jetzt eine laute kommen? Ganz zu schweigen von den großen Cuts. Donna Tartts »Der Distelfink« etwa hat einige starke Schnitte. Einmal springt das Buch mehrere Jahre in die Zukunft und zeigt, wie aus dem jugendlichen Gauner ein junger Mann wurde, der sich plötzlich in gehobenen Kreisen bewegt und verlobt hat. Solche Schnitte versetzen unsere Fantasie in Alarmbereitschaft, wir sind gezwungen, uns das Verpasste vorzustellen. Es läuft sofort ein Kinofilm ab – zumindest, wenn der Text uns genügend Material dafür gab.
Sie nennen viele Zitate von Schriftstellern als Kronzeugen für Ihre Erkenntnisse – wollen Sie über die Anleitung, die Ermunterung zum Schreiben hinaus literaturhistorische Gesetzmäßigkeiten ergründen?
Ich bin nur eine Stimme, nur eine einzige Antwort auf die Frage »Was bedeutet Schreiben, und was suchen und finden wir in Literatur?«. Ich wollte deshalb einen Chor aus mehreren Stimmen, um aus möglichst vielen Blickwinkeln auf dieses Thema zu blicken. Denn es gibt faszinierende Unterschiede. Manche Autor:innen gehen zudem komplett anders an einen Text heran als ich, auch das hat mich interessiert.
Unser Gedächtnis ist ein Geschichtenerzähler.
Benedict Wells
Welche Säulenheilige haben Sie unter den Schriftsteller:innen?
Mit John Irving fing bei mir alles an. Mir ist aber auch nah, wie Carson McCullers die Gefühlswelten ihrer Figuren gestaltet. Auf Kazuo Ishiguro stieß ich mit Mitte 20, danach beschloss ich, als Autor noch mal alles neu zu lernen. »Vom Ende der Einsamkeit« hätte ich ohne ihn nie schreiben können, erst durch seine Werke habe ich begriffen, wie wichtig die ruhigen Momente sind und dass das Entscheidende das Gefühl zwischen den Zeilen ist. Zuletzt fühlte ich mich Jeannette Walls und ihrem »Schloss aus Glas« sehr verbunden. Sie schildert darin ihr verrücktes Aufwachsen und ist in der literarischen Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend einen Schritt weiter als ich. Sie hat den Ton, der mir noch fehlt.
Welche Rolle spielen Testleser?
Man wird beim Schreiben oft ein Stück weit blind für das eigene Manuskript, ist zu tief in der Story und den Figuren drin, deshalb tut es gut, den Text mit den Augen anderer zu sehen. Testleser:innen weisen mich dann auf Brüche oder unlogische Stellen hin, aber auch darauf, wenn eine Figur noch nicht funktioniert oder leblos ist. Ich setze nicht alles um, aber das kritische Feedback hilft mir, den Text zu reflektieren. Manchmal weiß ich danach auch nur, dass ich es trotzdem so machen möchte oder baue eine Stelle sogar aus. Bei »Hard Land« war die beste Testleserin die Ex-Freundin meines kleinen Cousins. Immer wieder diskutierten wir über Figuren wie Kirstie, sie las die Geschichte mehrmals, und ich fühlte jedes Mal, dass sie mit ihrer Kritik leider recht hatte. Am Ende waren wir beide einigermaßen zufrieden, und das war ein schönes Gefühl.
Sie erwähnen nicht die Arbeit im Lektorat. Sind Ihre Texte nach den Kritiken der Testleser:innen schon so geschliffen, dass der Verlag kaum noch Arbeit mit dem Manuskript hat?
Nein, natürlich nicht! Meine Lektorin Ursula Baumhauer ist mein großes Glück, sie kennt mich seit 17 Jahren, deshalb bekommt sie den Text inzwischen aber schon recht früh, meistens als vierte oder fünfte Leserin, oft diskutieren wir zusammen auch das Feedback anderer. Sie ist meine Vertraute und kennt mich als Autor so gut wie kaum jemand sonst. Auch mein Agent Thomas Hölzl ist unfassbar wichtig; mit ihm kann ich jede Kleinigkeit besprechen, gegen Ende schicke ich ihm manche Stellen neun- oder zehnmal, bis wir das Gefühl haben, dass es sitzt. Ihm und meiner Lektorin verdanke ich wahnsinnig viel.
Auf Kazuo Ishiguro stieß ich mit Mitte 20... erst durch seine Werke habe ich begriffen, wie wichtig die ruhigen Momente sind und das Entscheidende das Gefühl zwischen den Zeilen ist.
Benedict Wells
Wie ist das mit der »Prise Kitsch und Rührung« beim Schreiben, die Sie zitieren?
Ich bin da zugegeben ein wenig gefährdet, gleichzeitig sind wir laut Walt Whitman ja »Vielheiten«. So habe ich im Kopf immer auch einen Zyniker, der schon beim Tippen mancher Stellen aus der Ecke ruft: »O Gott, ist das kitschig, das kannst du gleich wieder löschen!« Sich vorher zu zensieren, ist aber falsch, sonst entgeht einem vielleicht der schönste Satz des Buchs. Deshalb erlaube ich mir erst einmal alles – und entschärfe es dann wieder. Am Ende soll der Text nicht selbst rührend sein, sondern nüchtern etwas schildern, das einen im besten Fall dann aber beim Lesen berührt.
»Kill your darlings«, heißt eine Maxime – was sind Ihre darlings?
Ich bin eher auf der »ausgesprochenen« Seite und muss fast immer überlegen: Wäre es nicht doch besser, hier nur anzudeuten oder die Stelle ganz der Fantasie der Leser:innen zu überlassen? Ich hänge auch an poetischen Punchlines, das kann aber schnell zu gewollt wirken. Habe ich etwa einen bewusst schönen Satz, bleibe ich davor und danach eher lakonisch, damit es nicht zu viel wird. Schlimm wird es, wenn ich auf derselben Seite jedoch noch einen weiteren Satz habe, an dem ich hänge und der dann raus müsste. Solche Entscheidungen können mich verrückt machen.
Bücher sind Zufluchtsorte, »Lesen kann retten«, schreiben Sie. Heute immer noch?
Ja, oft. Lesen hat mich als Kind gerettet, da es einem zeigt, dass man nicht allein ist. Manche Bücher gaben meinen Gefühlen eine Sprache, als ich noch keine hatte, und wurden ein Zuhause für mich. Lesen hat in seiner Ent-
schleunigung auch etwas Ablenkendes, Geduldiges, man muss sich konzentrieren – und kommt zur Ruhe. Ich merke zum Beispiel, dass ich nach meiner Auszeit zu früh wieder in die Öffentlichkeit gegangen bin und damit einfach nicht so gut umgehen kann; ich habe jetzt auch schon wieder größere Interviews abgesagt. Da saß ich dann und dachte: »Mein Gott, wieso willst du immer etwas, was du dann nicht aushältst?« In dieser Stimmung las ich Maya Angelou. Mein ruheloser Geist hatte für ein paar Stunden eine Heimat gefunden und geschwiegen, hat sich in eine fremde Welt vertieft, sich mit anderen Themen und Gedanken beschäftigt – wie könnte das nicht tröstlich sein?
Lesen hat mich als Kind gerettet, da es einem zeigt, dass man nicht allein ist.
Benedict Wells
Ihr aktueller persönlicher Lesetipp für Buchhändler:innen?
»Effingers« von Gabriele Tergit sehe ich als einen der großen Klassiker des 20. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte einer jüdischen Familie in Deutschland von 1870 bis 1940 und schildert sehr anschaulich, wie eine Gesellschaft durch falsche Versprechungen und Entscheidungen in dunkelste Finsternis abrutschen kann. Man entdeckt beim Lesen viele Parallelen zur Gegenwart, denn wir leben leider in Zeiten, in denen rechtsextreme Parteien wieder zunehmend Stimmen und Wahlen gewinnen. Werke wie »Effingers« zeigen, was dann passiert, sie schärfen unser Bewusstsein. Entscheidend ist aber, was wir daraus machen und dass wir uns mit allem, was wir haben, gegen rechtsextreme Parteien wehren – und für die vielfältige, friedliche Demokratie kämpfen, die wir momentan haben.
»Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben«
(Diogenes, 400 S., 26 €)