Interview mit Benedict Wells

"Die Hälfte des Lebens ist 17"

16. Februar 2021
Stefan Hauck

Diogenes veröffentlicht am 24. Februar den ersten Jugendroman von Benedict Wells: Ein Gespräch über Teenagerfiguren, Ängste und das Coming-of-Age-Genre.

Der Roman spielt 1985, du bist ein Jahr zuvor geboren – warum hast du dir eine Zeit gewählt, die du nicht aus eigener Anschauung kennst?
Mein Benzin beim Schreiben dieser Geschichte war nicht die eigene Erfahrung, sondern Sehnsucht. Ich wollte einen Sommer der Jugend schreiben, den ich so nie hatte, aber gern erlebt hätte: in Amerika in den 80ern. Zumal die eigenen Erlebnisse ja auch limitieren können. Hätte ich über die 90er in Bayern geschrieben, hätte ich nur meinen eigenen Blickwinkel gehabt. Bei "Hard Land" dagegen standen mir verschiedenste Perspektiven zur Verfügung, gerade weil ich diese Zeit eben nicht selbst erlebt habe.

Ist Grady in Missouri dann auch ein erfundener Handlungsort? Ich sehe "Hard Land" als ein Kammerspiel, das nicht unbedingt verortet sein muss.
Grady ist zwar fitkiv, aber ich war vor 13 Jahren wirklich in Missouri und spürte in einem Kaff sofort: Hier möchte ich mal einen Roman spielen lassen. Natürlich hätte ich bei "Hard Land" auch versuchen können, die Geschichte ins Ostallgäu zu versetzen. Aber ich kann viel mehr über einen gelben amerikanischen High-School-Bus erzählen als über die RVA-Busse, die ich als Heimschüler selbst benutzt habe. Diese Geschichte gehörte nach Amerika, das spürte ich beim Schreiben einfach. 

Was hat dich gereizt, jetzt einen Jugendroman zu schreiben?
Das Sicherste, was ich nach dem letzten Roman hätte machen können, wäre gewesen, einen weiteren Familienroman zu schreiben. Aber ich liebe das Coming-of-Age-Genre nun mal, ob Filme wie "Breakfast Club" und "Stand By Me" oder Romane. Und erst jetzt fühlte ich mich alt genug dafür. Wenn du selbst noch nicht weit von der Teenagerzeit entfernt bist, möchtest du eher zeigen, dass du jetzt ganz anders und reifer bist. Beim Blick zurück bist du zu nah dran, siehst quasi nur die Bäume. Mit Anfang dreißig hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, diese Details noch immer sehen zu können – aber hoffentlich auch schon den Wald.

Du bist sehr dicht an den Teenagerfiguren dran …
Weil es so eine spannende Zeit ist. Man erlebt alles zum ersten Mal, Freundschaft, Liebe, aber auch Verluste und Ängste. In diesem Alter hat man noch keinen Schutzpanzer, fühlt sich allem ausgeliefert, und das offenbar für immer. Auch deshalb scheint die Teenagerzeit ewig zu gehen – eigentlich ist die gefühlte Hälfte des Lebens nicht mit vierzig erreicht, sondern schon mit 17 oder 18 Jahren. Denn die Erfahrungen in dieser Zeit prägen einen das ganze weitere Leben. Man kehrt gedanklich immer wieder dahin zurück, wie in ein Kino mit den immer selben Filmen.

Hattest Du beim Schreiben jugendliche Leser als Zielgruppe im Kopf?
Ich hoffe, ich erreiche ein paar junge Leser mit dem Roman. Aber insgeheim ist er vielleicht fast noch mehr für Leser, die mal jung waren.

Hast du in der Vorbereitung andere Jugendromane gelesen?
Ja, ein sehr großer Spaß für mich. Ich habe fast alle Gewinnertitel des Deutschen Jugendliteraturpreises gelesen, dazu selbstverständlich zum x-ten Mal die geliebten Romane von John Green, aber auch "The Hate U Give" von Angie Thomas, "Frankie" von Carson McCullers und "The Perks Of Being A Wallflowr" von Stephen Chbosky. Sie alle beschreiben diese Reifeprozesse sehr treffend.

Wie viel vom jugendlichen Benedict Wells steckt in Sam, Cameron, Brandon und Kirstie?
Ich kann oft schwer sagen, was von mir in meinen Geschichten steckt. Als Internatsschüler hatte ich sicher eine rauere Schale als Sam, aber im Kern haben wir sehr viele Gemeinsamkeiten. Wobei auch Sams Schwester Jean viel von mir hat, die von zu Hause wegging, schreibt und öfter mal in ihre eigene Welt abtaucht.

Zentrale Themen im Roman sind Kommunikation und Ängste, und da scheinst du dich explizit auszukennen. Wie ist das bei dir?
Ich bin tatsächlich eher der Typ Schisser, sorge mich vor jeder Auslandsreise, habe ja auch Flugangst und kämpfe sehr mit diesen Gefühlen und Gedanken. Eigentlich musste ich mich bei jeder Entscheidung in meinem Leben überwinden, ob nun die Fahrt mit der Transsibirischen nach China, der Umzug nach Barcelona oder auch kleinere Dinge. Es zeigt aber auch, dass man nicht diese Ängste oder ersten Instinkte ist – sondern vielmehr das, was man macht. Man wird, was man tut, nicht was man immer glaubte zu sein. Das gilt auch für Sam.

Er findet im Lauf des Romans für jede Figur einen eigenen Zugang, du differenzierst da sehr in der Kommunikation.
Danke. Ich habe oft gehadert mit der Figurenfülle, sieben ist nicht wenig. Deshalb gingen viele Jahre des Schreibens für die erste Romanhälfte drauf, ich wollte alles so geräuschlos wie möglich aufbauen, damit die Geschichte ab der Hälfte richtig ins Rollen kommt. Und ich brauchte diese Figuren dafür, wollte auch, dass Sam zu ihnen ganz eigene Beziehungen hat. Und daran wachsen kann.

Der Leser schließt die Figuren Seite um Seite ins Herz, seufzt mit dem Ich-Erzähler oder möchte ihm auf die Sprünge helfen. Obwohl er tragische Momente erleben muss, lässt du die Geschichte positiv enden …
(unterbricht lachend) Aber jetzt nicht spoilern! Ich gebe zu, dass ich mich bei diesem Roman ein bisschen der Tradition klassischer coming-of-age-Geschichten verpflichtet fühlte. Man denke sich etwa einen John Hughes Film ohne gutes Ende. Aber ich wollte auch nicht lügen. Es gibt Stellen im Roman, die sind trostlos und traurig, es gibt Verlust und nicht auf jede Frage eine Antwort. Man läuft im Leben auch mal abseits der Straße, ringt um seine Zuversicht. Ich wollte aber auch zeigen, dass man gerade dann als Mensch wachsen kann, wenn es besonders aussichtslos scheint. Und dass es auch nach schwierigen Momenten weitergeht.

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