Eröffnungs-PK der Frankfurter Buchmesse

Elif Shafak: "Für Weisheit brauchen wir Literatur"

15. Oktober 2024
Matthias Glatthor

Meinungsvielfalt, Italien und mehr New Adult: Auf der Eröffnungs-Pressekonferenz der 76. Frankfurter Buchmesse im Pavilion auf der Agora, wurde das Programm der nächsten Tage umrissen. Als Gastrednerin berührte die britisch-türkische Autorin Elif Shafak und veranlasste Messedirektor Juergen Boos zu einem ungewohnten Schritt.

Buchmessedirektor Juergen Boos, Schriftstellerin Elif Shafak, Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs

Treten Sie ruhig näher! Buchmessedirektor Juergen Boos, Schriftstellerin Elif Shafak, Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs

"Literatur kann ein Akt der Hoffnung sein"

Bleibenden Eindruck hinterließ und großen Applaus erntete die britisch-türkische Autorin Elif Shafak als Gastrednerin am Dienstagmittag auf der Eröffnungs-Pressekonferenz zur 76. Frankfurter Buchmesse (16.–20. Oktober). Ein Glücksgriff. "Ich glaube wir leben in einer komischen Zeit", so Shafak, die Welt sei einerseits zerrissen von Kriegen, und andererseits tun wir unserer Heimat, der Erde, Gewalt an. Welche Rolle können dann Geschichten spielen, wo es überall Stressfaktoren gibt? Wir leben in einer Zeit, wo wir weniger Wissen hätten, obwohl uns dauernd Informationen aus Social Media überschwemmen. Informationen, bei denen wir keine Zeit hätten, sie zu überprüfen. "Wann haben wir das letzte Mal gesagt: 'Ich weiß es nicht'"? Solch ein Ansatz sei ein wichtiger Aspekt für Philosophie und Kommunikation gewesen.  Wahres Wissen, das müsse man langsamer machen: "Wir brauchen langsamen Journalismus, wir brauchen Bücher". Und als Schriftstellerin betont sie: "Für Weisheit brauchen wir Literatur". Nicht, dass sie behaupten wolle, Autor:innen seien weiser, "aber wenn wir Bücher schreiben, verbinden wir uns mit etwas, was älter ist...". 

Als Autorin sei sie am Öko-Feminismus interessiert, führte Shafak weiter aus, und sie möchte den Ausgegrenzten eine Stimme geben. "Literatur kann Menschen wieder zu menschlichen Wesen machen. Wir können Würde wieder herstellen, wo es keine Würde gibt". So sei Schilderung der türkischen Geschichte vor allem eine männliche Geschichte, bei Frauen etwa, "da herrscht Stille". Man müsse in diesen Schichten der Stille quasi archäologisch graben. Literatur könne ein Akt der Hoffnung, des Widerstands sein. Dabei müsse Literatur Analyse während und nicht nur nach, wie es etwa Doris Lessing formuliert hätte, einem Ereignis sein. 

Dann schlug sie den Bogen zurück zum Anfang: "Wir leben in einem Zeitalter der existenzielle Angst". Wie können wir weitermachen? Ihre eigenste Angst sei die Abwesenheit von Emotion: "Das Schlimmste wäre es, wenn das Zeitalter der Angst zum Zeitalter der Apathie würde". Hier sei Literatur ein wichtiges Gegenmittel. Die Macht der Schriftsteller:innen sei es, Schönheit, Solidarität, Partnerschaft und Liebe zu vermitteln. Viel Beifall aus dem voll besetzten Pavilion war der Lohn für ihre eindrückliche Rede.

Eigentlich hatte Juergen Boos, wie von früheren Eröffnungs-PKs gewohnt, vor, Fragen zu stellen – aber diesmal verzichtete er darauf, um die Botschaft von Elif Shafak im Raum nachwirken zu lassen: "Ich bin sehr berührt, ich könnte weinen."

Bücher begeistern Menschen – und das sogar wieder mehr. Viele junge Leser:innen sind im absoluten Lesefieber.

Karin Schmidt-Friderichs

"Größter Datenklau der Geschichte"

Den Auftakt am Pult der Pressekonferenz zur Messe-Eröffnung hatte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, bestritten: "Die Buchmesse ist eine Agora des dialektischen Austauschs in wechselseitigem Respekt, ein Ort, an dem unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen, ohne aufeinanderzuprallen", betonte sie. Der konstruktive Meinungsaustausch sei angesichts zunehmender Polarisierung in der Gesellschaft von großer Bedeutung. Die Buchmesse bereite dem Diskurs eine Bühne, sei der Ort, wo Fake-News Lügen genannt werden.

Dann berichtete sie über die wirtschaftliche Entwicklung: Die Buchbranche gehe mit stabilen Umsätzen in die Buchmesse und den Bücherherbst. In den zentralen Vertriebswegen liege das Geschäft nach neun Monaten mit einem Plus von 0,5 Prozent leicht über dem des Vorjahreszeitraums (Quelle: Media Control). Gerade die bei den jungen Menschen und bei #BookTok beliebten Genres New und Young Adult wachsen derzeit.

"Bücher begeistern Menschen – und das sogar wieder mehr. Viele junge Leser:innen sind im absoluten Lesefieber", freute sich die Vorsteherin. "Sei es, weil sie in Geschichten ein- und abtauchen möchten, sei es, um Neues zu entdecken, sich Wissenswelten zu erschließen, sei es, um sich anhand sorgfältig recherchierter und klar formulierter Hintergrundinformationen eine eigene Meinung zu bilden oder diese zu überprüfen." Zwar laufe viel über Social Media, aber der Funke sei in die Buchhandlung vor Ort übergesprungen. "Diese Generation bewegt sich völlig selbstverständlich zwischen analog und digital."

Aber: Über diese positiven Nachrichten sollten wir allerdings nicht vergessen, dass jedes vierte Kind die Grundschule verlässt, ohne richtig lesen zu können. "Der Bildungsnotstand in unserem Land nimmt weiter zu. Und die Politik verschließt weitgehend die Augen davor. Dabei ist Lesekompetenz Grundlage für demokratische Teilhabe. Nur wer versteht, was in den Wahlprogrammen steht, also hinter die Kulisse markiger Wahlversprechen schaut, kann verantwortungsvoll wählen", erklärte Karin Schmidt-Friderichs.

Auch in Zeiten knapper Haushalte dürfe daher nicht an Bildung, an Kultur- und Leseförderung gespart werden. Neben wirksamen Initiativen zur Verbesserung der Lesefähigkeit sei die Fortführung des Kulturpasses für 18-Jährige wichtig, um auch künftig niedrigschwellige Zugänge zu Kultur und Literatur zu schaffen. Für die Meinungsbildung sei es ebenso unerlässlich, dass in Öffentlichkeit und Medien über kultur- und gesellschaftspolitische Fragen gesprochen werde. Es sei daher eine falsche Weichenstellung, wenn aktuell überlegt werde, die Kulturberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch weiter zu reduzieren. "Wir brauchen Kultursender wie arte und 3sat", so die Vorsteherin – das sorgte für Beifall der Pressevertreter im Pavilion.

Zudem wies Karin Schmidt-Friderichs auf eine bedenkliche Zunahme bürokratischer Hürden hin, die Buchhandlungen, Verlage und Buchlogistiker immer mehr lähmten. Angesichts wachsender Nachweis- und Berichtspflichten, etwa zu Lieferketten, Produktsicherheit und Verpackungswegen, oder drastisch gestiegener Anforderungen und Bearbeitungszeiten im Steuerrecht forderte die Vorsteherin dringend einen Abbau von Bürokratie.

Ein zentrales Thema für die Branche ist zurzeit Künstliche Intelligenz. KI biete viele Chancen, auch für Verlage, Buchhandlungen und die Logistik. Karin Schmidt-Friderichs hierzu: "KI kann unterstützen und assistieren, kann Prozesse vereinfachen und kreative Impulse geben. Was sie – zumindest noch – nicht kann: Überraschende, irritierende, berührende, inspirierende Texte schreiben. Und was oft vergessen wird: Die Fähigkeiten dieser Systeme basieren auf dem größten Datenklau der Geschichte. Urheberrechtlich geschützte Texte und Bilder wurden und werden millionenfach ohne das Einverständnis der Urheber:innen und ohne Honorarzahlungen als Trainingsmaterial für KIs eingesetzt. Das geht so nicht! Wir brauchen klare Regeln. Das europäische KI-Gesetz, der AI-Act, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, viele Punkte sind aber noch offen."

"Die Frankfurter Buchmesse ist immer im Wandel"

Zwischen Karin Schmidt-Friderichs und Elif Shafak kam Messedirektor Juergen Boos zu Wort. Die Wahl des Orts für Eröffnungs-PK sei kein Zufall, der Ort sei selbst Programm. Der Frankfurt Pavilion sei ein Beispiel für etwas, "dass ich als demokratische Architektur bezeichne". Als neues Markendach für die gesellschaftspolitischen Debatten hat man "Frankfurt Calling – Perspectives on Culture and Politics" eingerichtet. Behandelt werden Themen wie Demokratie, Menschenrechte, künstliche Intelligenz, Klimawandel und Bildung. Weiter der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der sich ausweitende Konflikt im Nahen und Mittleren Osten sowie seine Rezeption, Black Feminism und das weltweite Erstarken des Populismus. Hauptbühne ist der Pavilion. Wichtig sei, bekräftigte Boos, dass sich das Format von den Politik-Talks im Fernsehen abgrenze. "Bei uns wird es von literarischer Seite aus betrachtet." Denn die Freiheit des Erzählens sei in vielen Teilen der Welt eingeschränkt. 

Das Gastland werde ein modernes, diverses, junges Italien präsentieren. Auf die Kontroverse in Italien um die Besetzung der Delegation des Gastlandes ging er zunächst nicht ein, hierzu gab es später eine Nachfrage aus dem Publikum. Man habe alle Autoren hier, wenn auch nicht mit der offiziellen Delegation, muss man hinzufügen. Der Austausch sei wichtig: "Ja, wir müssen Italien zuhören." 

Und mit der New Adult Area in Halle 1.2 hat man ein neues Areal konzipiert, um dem boomenden Segment gerecht zu werden – auf 8.000 Quadratmetern. "Die Frankfurter Buchmesse ist immer im Wandel", erläuterte Boos, "wir greifen neue Entwicklungen des Marktes auf und machen sie in Frankfurt sichtbar". Was in der New Adult Area geschehen werde, habe eher den Charakter einer Convention als den einer klassischen Messe. Es gehe ums Signieren, Selfies mit Autor:innen und Stars aus besonderen Genres. Ein immer wichtiger werdender, hierzu passender Bereich ist das Thema "Buch und Film" mit dem Book-to-Screen-Day am 18. Oktober. 

Das sind nur einige Auszüge aus dem vielfältigen Angebot, das uns in den nächsten Tagen auf der Frankfurter Buchmesse 2024 erwartet. Auf der Website der Messe finden sich alle Infos: www.buchmesse.de