Neue Krimiserie

Babylon Prag

22. Oktober 2024
von Nils Kahlefendt

Diese Stadt hat Krallen: Das Duo Martin Becker und Tabea Soergel lässt den rasenden Reporter E. E. Kisch in den Gassen Prags ermitteln – furioser Start einer historischen Krimiserie bei Kanon.

Postkartenblick: Tabea Soergel und Martin Becker vor der Kulisse Prags.

Als Martin Becker, zusammen mit Tabea Soergel, im Winter 2006 zum ersten Mal nach Prag reiste, schleppte er eine Lebensmittelvergiftung mit sich herum. Die erste Nacht verbrachte der Hörfunkjournalist und Autor im Krankenhaus Na Bulovce, aus dessen fünftem Stock ein paar Jahre zuvor der göttliche Bohumil Hrabal in den Tod stürzte. Der Sauerländer Becker und die Kölnerin Soergel verliebten sich dennoch in die goldene Stadt, die Sprache, ins Land. Sie lernten Tschechisch, produzierten Radio-Features über Vaclav Havel oder Jaroslav Rudiš, Becker schrieb für Piper eine "Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien". In Corona-Zeiten trat das Thema ein wenig in den Hintergrund – bis vor rund anderthalb Jahren Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk bei Becker anrief: "Hättest du Lust, einen Prag-Krimi mit Egon Erwin Kisch als Ermittler zu schreiben?" Das war die Initialzündung zum gerade erschienenen ersten Fall, "Die Schatten von Prag".  

 

Martin Becker und Gunnar Cynybulk auf der Karlsbrücke.

Der "rasende Reporter" war Cynybulk schon als Praktikant bei Aufbau untergekommen, als er die Umbrüche der Kisch-Werkausgabe kollationieren musste. "Ich war immer interessiert an diesem Tausendsassa! Allerdings habe ich im Lauf der Jahre durch neue Biografien oder Gespräche, etwa mit Jaroslav Rudis, andere Facetten entdeckt." Blickt man genauer auf Kischs Leben und Schreiben, fragt man sich, warum noch keiner die – wie der sprichwörtliche Elefant im Raum stehende – Einladung angenommen hat, ihn zum Protagonisten eines Krimis zu machen. Als Lokalreporter bei der Prager Tageszeitung "Bohemia" hatte er von 1906 bis 1913 schon von Berufs wegen Kontakt mit der Prager Halb- und Unterwelt. Seine journalistischen Arbeiten hat Kisch, selbst ein leidenschaftlicher Tänzer, mit dem Tanz verglichen: "Bedarf die Gestaltung der Wahrheit keine Phantasie? Es ist wahr, die Phantasie darf sich hier nicht entfalten, wie sie lustig ist, nur der schmale Steg zwischen Tatsache und Tatsache ist zum Tanz freigegeben."

Auf Kischs Spuren: Martin Becker vor dem ehemaligen Sitz der Bohemia-Redaktion, der Brunnen im Hintergrund spielt eine wichtige Rolle im Roman.
 

Zwischen Fakten und Fiktion

Dabei hatte der 1948 verstorbene Star-Reporter, nach dem fast 30 Jahre lang einer der begehrtesten Journalistenpreise der Republik benannt war, mitunter ein durchaus problematisches Verhältnis zur Wahrheit: Ende der 20er beichtete er, dass er seine Karriere mit einem erfundenen Text begonnen habe. Kisch – ein früher Relotius? Tatsächlich war die erfundene Reportage des unbekannten Kisch eine Erfindung des berühmten Reporters. Becker und Soergel tanzen in ihrem Roman zwischen Fakten und Fiktionen. "Wir haben beim Schreiben immer wieder den schmalen Steg zwischen Unwahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit betreten – dabei jedoch den Ehrgeiz entwickelt, ein wahrhaftiges Porträt über Kisch, seine Stadt Prag und seine Zeit zu entwerfen." So wie Kisch im Roman von seiner kongenialen Partnerin, der an der Anatomie des Bösen interessierten Medizinstudentin Lenka Weißbach, unterstützt wird, haben sich Becker und Soergel die Bälle zugeworfen. "Martin geht nach vorn, weiß, wie man Spannung erzeugt", sagt Tabea Soergel. "Ich habe den Blick für die Details." So hat sich Soergel durch die Frakturschrift eines ganzen "Bohemia"-Jahrgangs gequält; beim Stadtrundgang ist sie es, die die eine Jahreszahl, den anderen Fakt korrigiert.

Der Krimi spielt im Jahr 1910, als nicht nur halb Prag, sondern auch ein gewisser Franz Kafka die Ankunft des Halleyschen Kometen erwartet. Es herrscht Weltuntergangsstimmung, und wenn alle zum Himmel glotzen, haben die Verbrecher leichtes Spiel. Kafka oder Jaroslav Hasek tauchen – in fiktiven Slapstick-Situationen – tatsächlich im Roman auf. Figuren wie Lenka oder der Zöllner Novak, der in seinem Mauthäuschen auf der Franzens-Brücke Katastrophen spürt, weit bevor sie eintreten, sind, wie Becker grinsend gesteht, zwar frei erfunden, doch "es hätte sie geben können". Wer, so in die Mechanik des Romans eingeführt, mit Cynybulk, Becker und Soergel durch Prag tänzeln darf, wird reich beschenkt. Sollten die drei vielleicht ein literarisches Reise-Büro gründen, Kisch’n’Crime?

Masaryk-Bahnhof: Hier kommt Lenka Weißbach 1910 in Prag an.

Der Masaryk-Bahnhof, der bis 1985 der Endpunkt aller Züge aus Berlin und Dresden war und an dem auch Lenka Weißbach in Prag ankommt, ist heute vor allem wegen seiner Bahnhofs-Restauration "Masaryčka" interessant. In der Herrengasse, Lenkas Wohn- und erster Begegnungsort mit Kisch, half den beiden Autoren Kommissar Zufall, das Gebäude des "Prager Tagblatt" zu finden, wo der Reporter sechs Wochen volontierte. Heute domiziliert dort ein alter Schuster. Im "Bärenhaus" in der Melantrichgasse, wo Kisch 1885 als zweiter von fünf Söhnen des jüdischen Tuchhändlers Hermann Kisch und seiner Frau Ernestine geboren wurde, erinnert eine Plakette an den großen Autor. "Hier schoss er als kleiner Junge den Lederball gegen die Mauer und hörte den Glockenschlag vom Altstädter Ring", erzählt Becker, und auch, dass er hier seine erste Zeitung namens "Zeitung" herausgebracht hat.

Jetzt braucht es nur noch den Regisseur, der  dieses ›Babylon Praha‹ als Tanz zwischen Action und Tiefgang verfilmt.

Vom Haus "Zu den zwei goldenen Bären" bis zur Arbeitsstelle, der Redaktion der "Bohemia", brauchte Kisch eine Zigarettenlänge. Heute probt dort das Ballett des Nationaltheaters. Wer mit der berühmten Straßenbahnlinie 22 zur Prager Burg zuckelt und am Kloster Strahov aussteigt, kommt zur Stelle, wo Kisch und Kriminaldirektor a.D. Graef erstmals über eine mögliche, die Stadt bedrohende Verschwörung sprechen. Jetzt, wo Klostergarten, Prag, die Moldau wie auf einer Hochglanzpostkarte vor uns liegen: Kein Spuk, nirgends. Vielleicht ist der vergnügungssteuerpflichtige Blick nur der Cliffhanger für den nächsten, 1913 spielenden Fall von Kisch und Lenka. Jetzt braucht es nur noch den Regisseur, der dieses "Babylon Praha" als Tanz zwischen Action und Tiefgang verfilmt.

Tabea Soergel und Martin Becker vor dem Redaktionsgebäude des "Tagblatts".