Die "Charta 2017" (hier abrufbar) setzt ein mit den Worten: "Die Vorkommnisse auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse machen deutlich, wie widersprüchlich es in unserem Land zugeht: wie unter dem Begriff der Toleranz Intoleranz gelebt, wie zum scheinbaren Schutz der Demokratie die Meinungsfreiheit ausgehöhlt wird."
Wenn ein Branchenverband wie der Börsenverein darüber befinde, "was als Meinung innerhalb des Gesinnungskorridors akzeptiert wird und was nicht", wenn er zu "aktiver Auseinandersetzung" aufrufe und es dann im "Kampf gegen Rechts" zu Sachbeschädigungen komme, dann sei "unsere Gesellschaft nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt".
Im "Offenen Brief" schreibt die zweimal mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnete Sortimenterin: "Ich schäme mich als demokratischer Mensch, als leidenschaftliche Buchhändlerin und als eine in der DDR Geborene für diesen zutiefst respektlosen und würdelosen Umgang mit 'andersdenkenden' Verlagen und den dahinter stehenden Menschen." Dagen fügt hinzu, dass sie "in aller Ernsthaftigkeit" den Austritt aus dem Börsenverein erwäge.
Was die "Charta 2017" nicht erwähnt: Es kam während der Buchmesse auch zu gezielten Provokationen und Störmanövern von Rechts und bei mindestens einer Veranstaltung des Antaios Verlags mit Vertretern der Identitären Bewegung zu einer Machtdemonstration der Rechten, in deren Verlauf Buchmesse-Direktor Juergen Boos lautstark von der Bühne vertrieben wurde. Dies wurde anschließend als "Sieg" gefeiert.
DANKE
Die Entlarvung solch einer merkwürdig motivierten Schuldzuweisung an den Börsenverein, der doch besagtem Verlag zugestand, seine Erzeugnisse auszustellen, ist ja fast nicht leichter zubekommen - zeigt sie doch die Selbstüberhebung an, die dahinter steckt.
Diese scheint eine große Gemeinsamkeit der 'Deutschlandretter' zu sein. Es bedarf keiner linken gesinnungsdiktierten Einstellung, um diese als höchst unsympathisch zu empfinden.
Vielleicht könnten alle Seiten doch mal wieder kleinere Brötchen backen. Es ist zum Beispiel durchaus kein Weltuntergang, daß die AfD jetzt im Bundestag sitzt. Das macht die Debatten im hohen Haus spannend und lässt erkennen, ob die Politiker dieser Partei mehr bieten können als Fremdschuldzuweisungen. Daß der Auflösungsprozess so schnell beginnt, macht die Sache durchaus noch interessanter - am Tag des schon lange geplanten und medial fein vollzogenen Austritts aus der Bundestagsfraktion der bis dato Parteivorsitzenden, waren am Abend in Dresden ganz neue Rufe zu hören: 'Behdrie muß wäck! Behdrie muß wäck!' Ob sie es nun hörte oder schon längst wieder ganz eigene Pläne verfolgte in den letzten Wochen, sei mal dahin gestellt. Der aufgebrachte Zukurzgekommene wähnte sich aber endlich in Zuständen ganz direkter Demokratie.
Ich verstehe nicht, warum die in der DDR (an einer Russsisch-Schule) sozialisierte Pegida-Anhängerin in unserem tatsächlich freien Land nach Meinungsfreiheit ruft, um Verlagen und Autoren wie u. a. dem kürzlich wegen Volksverhetzung verurteilten Akif Pirincci meint, eine Stimme geben zu müssen.
Meinungsfreiheit hat klare Grenzen und der - selbstverständlich gewaltlose, da intellektuell zu verstehende - Aufruf des Börsenvereins zu "aktiver Auseinandersetzung" kann nur als Zivilcourage verstanden werden und ist alles andere als ein "Gesinnungskorridor".
"Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, sie hat aber Grenzen dort, wo Strafgesetze berührt werden, etwa wenn sie sich über die Menschenwürde hinwegsetzt", ermahnte die Vorsitzende Richterin Daniela Rothermundt übrigens den Angeklagten Akif Pirincci.
Ein Dresdner, der schon in der DDR ein Biermann hörender "mündiger Bürger" war, im Herbst '89 dabei war und nie wie Frau Dagen an eine erneuerbare DDR geglaubt hat.
Und wenn nun auch in meinem Bekanntenkreis einige Freunde lieber woanders ihre Bücher kaufen, ist das keine Meinungsdiktatur, sondern freie (!) Marktwirtschaft.
Gerade wurde ich via Facebook aufgefordert, die von Frau Susanne Dagen initiierte Charta 2017 – zu den Vorkommnissen auf der Frankfurter Buchmesse – mit „gefällt mir“ zu kommentieren. Das kann und will ich aber nicht, und das aus folgenden Gründen:
Die Meinungsfreiheit gerät an ihre Grenzen, wenn sie auf der Buchmesse in Frankfurt Autoren und Personen ein Podium gewährt, welche demokratische Strukturen und Rechtsstaatlichkeit selbst nicht respektieren. Dazu gehören unter anderem Björn Höcke und der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci, der nach seiner beschämenden Rede auf der Pegida-Demonstration im Oktober 2015 Dresden der Volksverhetzung angeklagt wurde, unter anderem wegen der Bemerkung „„Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“ In diesem Zusammenhang ist die Konsequenz der Verlagsgruppe Random House zu nennen, die seine früheren Bücher vollständig aus dem Programm nahm. Und bereits hier stellt sich die Frage: Ist das Gesinnungsdiktatur? Wird hier ein Autor, der ja auch über Katzen schreibt, in seiner Meinungsfreiheit beschnitten?
Ich habe seine Rede vollständig gelesen, sie ist beleidigend, faschistisch und in keiner Weise mit demokratischer Kultur vereinbar und genau deshalb finde ich die Entscheidung der Verlagsgruppe richtig und zwangsläufig. Zitate von Björn Höcke wie „Der Syrer, der zu uns kommt, der hat noch sein Syrien. Der Afghane, der zu uns kommt, der hat noch sein Afghanistan. Und der Senegalese, der zu uns kommt, der hat noch seinen Senegal. Wenn wir unser Deutschland verloren haben, haben wir keine Heimat mehr!“ (auf einer Demonstration in Erfurt, September 2015) oder „Ich will, dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat. Ich will, dass Deutschland auch eine tausendjährige Zukunft hat“ (auf einer Kundgebung im Oktober 2015) sind hinreichend bekannt.
Wenn also Personen mit diesem Hintergrund auf der Frankfurter Buchmesse auftreten, dann ist es nur allzu verständlich, dass es andere Besucher gibt, die damit nicht einverstanden sind und auch, dass sie ihrer Empörung Ausdruck verleihen – auch weil ein Akif Pirinçci beim Antaios-Verlag publiziert.
„Der Börsenverein tritt aktiv für die Meinungsfreiheit ein. Das bedeutet, dass wir Verlage oder einzelne Titel, die nicht gegen geltendes Recht verstoßen, nicht von der Frankfurter Buchmesse ausschließen. Allerdings bedeutet das nicht, dass wir das Gedankengut, das solche Verlage verbreiten, gutheißen. Wir treten für eine offene, vielfältige Gesellschaft ein, für Toleranz und Solidarität, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir sehen uns daher in der Pflicht, uns aktiv mit der Präsenz dieser Verlage auseinanderzusetzen und für unsere Werte einzutreten.“ So beschreibt der Börsenverein seine Haltung im Zusammenhang mit dem Umgang mit rechten Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse und offenbart darin den grundsätzlichen Widerspruch, der offensichtlich dann auch zu den handfesten Auseinandersetzungen geführt hat. Doch wie bitte, lassen sich Toleranz und Solidarität, Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mit Personen wie Höcke, Pirinçci, Gauland etc. sowie deren Publikationen, die Gedankengut verbreiten, welches ganz offensichtlich und mehr als deutlich dazu beiträgt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu schüren, mit dieser erklärten Haltung verbinden? Wird hier der Meinungsfreiheit mehr Gewicht zugesprochen als Solidarität und Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus? Das wäre fatal.
Dennoch sind Gewalt und Zerstörung in diesem Zusammenhang natürlich nicht zu tolerieren, wenngleich durchaus zu verstehen.
Nun sollte man sich allerdings auch fragen, warum dies mit einer solchen Heftigkeit geschieht. Ich bin der Ansicht, dass es hier um etwas ganz Existentielles geht, besonders vor dem Hintergrund der letzten zwei Jahre und dem Kontext von Flucht und Vertreibung. Sicher, hier ist es notwendig, zu diskutieren, Meinungen und Haltungen zu überprüfen und Möglichkeiten eines demokratischen und würdigen Miteinanders unter den neuen globalen Bedingungen zu finden. Aber dabei es ist nicht nur wenig hilfreich, sondern auch brandgefährlich, sich auf rechtsgerichtete und radikale Traditionen in Deutschland zu berufen, diese zu verharmlosen und verfälscht in den Kontext zur Gegenwart zu setzen.
Frau Dagen erwägt, als Buchhändlerin den Börsenverein zu verlassen, wäre ich Mitglied, ich würde es nicht nur erwägen, sondern konsequent umsetzen, wenn auch aus anderen Gründen. Ich würde diese Entscheidung treffen, weil auf der Frankfurter Buchmesse diesen Verlagen und Personen ein Podium gewährt wurde und nicht, weil Besucher ihrer Empörung darüber Ausdruck verliehen haben.
Zuletzt möchte ich noch auf die Charta 77 verwiesen, in deren Tradition Frau Dagen offensichtlich ihren Aufruf gelesen haben möchte, was ich selbst für etwas problematisch halte.
In der Gründungserklärung der Charta 77 ist zu lesen:
„Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und Menschenrechten in unserem Land und in der Welt einzusetzen.“
Gewiss ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut, wenn sie aber missbraucht wird, um Gedankengut zu transportieren, das dazu aufruft, Bürger- und Menschenrechte zu verletzen, Menschen zu diskriminieren und auszugrenzen, dann sollten auch Veranstalter wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Haltung zeigen und nicht durch falsch verstandene Meinungsfreiheit noch Podien bauen.
Dresden, den 19.10.2017
Undine Materni
Jayne-Ann Igel
Patrick Beck (Autoren)
Meinungsfreiheit bedeutet niemand verbietet mir zu sagen was ich denke.
Wir haben rechte Buchhandlungen, rechte Autoren, rechte Verlage, sogar sehr rechte. Niemand verbiet ihnen ihr Geschäft / Werk, ich finde den Inhalt katastrophal, würde aber jederzeit das Recht zur Veröffentlichung verteidigen.
ABER, natürlich muss ich als solcher Publizist, Autor, Verleger damit leben, dass andere diese Werke und Ideen nicht teilen. Denn Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass die Öffentlichkeit und Gesellschaft dies alles kritiklos hinnehmen muss und ich 'geschützt' werde vor Kritik und Auseinandersetzung mit dem Inhalt.
Hier möchte eine Minderheit am rechten Rand der Gesellschaft die Meinungsfreiheit als 'Schutzschild' vor Kritik missbrauchen. Besonders perfide dabei: Im Prinzip bedeutet dieses Verständnis es, dass jegliche ablehnende Meinungsäußerung zu unterbleiben hat.
Während man diese also für sich reklamiert (obwohl man ja längst dabei ist 'zu sagen und zu veröffentlichen was man möchte') möchte man den Kritikern ihre Meinung am liebsten verbieten.
Dass das Boersenblatt sich hierfür hergibt ist erbärmlich.
"Ich verstehe nicht, warum die in der DDR (an einer Russsisch-Schule) sozialisierte Pegida-Anhängerin in unserem tatsächlich freien Land nach Meinungsfreiheit ruft, .. " heißt das jetzt, jemand der im Irrtum war (ist) hat kein Recht mehr auf Einforderung von Presse- und Meinungsfreiheit? So jemand hat für immer zu schweigen?
Da erfreure ich mich doch eher der Äußerung eines Boris Palmer BP 42, S. 16: "Wir müssen auf die Kraft der Argumente vertrauen - und selber vorleben, dass wir die Regeln des demokratischen Diskurses beherzigen."
Bei einem weiteren Punkt sehe ich Klärungsbedarf: Wenn Sie tatsächlich Biermann hörten und 89 auf der richtigen Seite waren, warum stört es Sie nicht, das linksradikale Verfassungfeinde seit Jahrzehnten auf der Buchmesse ihre Kampfschriften ausbreiten? Das Verlage deren Autoren die DDR verklären und DDR-Unrecht verharmlosen und leugnen auch dieses Jahr da waren nehmen Sie ohne Protest hin?
es ist sehr rühmlich, dass Sie sich für Meinungsfreiheit einsetzen, aber Sie differenzieren in der Tat offenbar nicht zwischen Meinung und Gesinnung! Und offensichtlich sehen Sie nicht, wie hinterlistig das Muster der „Neuen Rechten“ oder der „Identitären“ - oder wie auch immer sie sich bezeichnen mögen - ist. Sind Sie denn blind oder taub? Wenn Personen zu einer Buchmesse eingeladen werden, die volksverhetzende Positionen vertreten und öffentlich verkünden und Holocaust-Leugner verteidigen, sind das keine guten Anzeichen für die Entwicklung in unserer Gesellschaft! Begreifen Sie das nicht? Oder sind Sie evtl. bereits dem Intellekt des Herrn Götz Kubitschek verfallen? Und wenn Sie schon solche intellektuellen Hinweise auf Bücher geben, dann sollten Sie es vielleicht einmal mit diesem Titel versuchen: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr.
Es kann ja wohl wirklich nicht angehen, was hier in Deutschland passiert. Und das nach so einer furchtbaren Zeit wie dem Nationalsozialismus. Wie kann das alles so verharmlost werden? Und immer wieder die Opferrolle der Rechten - haben Sie vergessen, wer die wahren Opfer zu Zeiten des Nationalsozialismus waren? Wachen Sie endlich auf!!
Von einem Schweigegebot schrieb ich nichts.
Lediglich von meinem Unverständnis, in unserem freiem Land Meinungsfreiheit zu fordern und von einem absurden "Gesinnungskorridor" zu sprechen.
Und selbstverständlich sehe ich die z.b. geschichtsrevisionistischen Veröffentlichungen der Edition Ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe sehr kritisch. Diese Verbreitung von Propagandalügen der SED sind aber auch durch Meinungsfreiheit unserer Demokratie geschützt.
Ich bin da ganz bei Hubertus Knabe: "Die Politik sollte regeln, dass der Straftatbestand der Volksverhetzung nicht nur mit Blick auf den Nationalsozialismus angewendet werden könne."