Der zweite Blick
Jeder Text profitiert davon, wenn er nach dem Schreibflow noch mal mit Abstand durchgelesen wird. Im Idealfall aus einer ganz anderen Perspektive.
Jeder Text profitiert davon, wenn er nach dem Schreibflow noch mal mit Abstand durchgelesen wird. Im Idealfall aus einer ganz anderen Perspektive.
Das Schreiben ist so eine Sache. Wir bringen etwas zu Papier oder haben einen bestimmten Zweck im Sinn. Es wächst etwas, eines baut auf dem anderen auf, Sie lassen sich vom Flow tragen, Sie sind glücklich beim Erschaffen und ganz von Ihrem Weg überzeugt. Wenn Sie nicht mehr können, legen Sie das Blatt oder die Datei beiseite.
Neutral betrachtet sieht es oft ganz anders aus: Es kann passieren, dass Sie beim Schreiben ein wenig blind werden. Dass Sie zu sehr versunken sind, das Außen ausgeblendet haben und die größeren Zusammenhänge nicht mehr sehen. Sie sind vielleicht einer fixen Idee aufgesessen, haben sich in etwas verrannt. Ist die Grundaussage des Textes noch da? Stimmt die inhaltliche Richtung mit der überein, die Sie angepeilt hatten? Manchmal verselbstständigt sich das, was man schreibt.
Und nicht nur beim Erzählen passiert das; bei sachlichen Texten, Bewerbungsschreiben oder selbst bei E-Mails kommt es vor, dass man einen Aspekt in den Fokus nimmt, der eigentlich gar nicht so wichtig ist. Das ist normal, das liegt an unserer ureigenen Perspektive. Eine gewisse Schieflage kann die Folge sein, die dem Geschriebenen dann ein Stück weit seine Wirkung nimmt.
Beruhigend: Das können Sie ganz einfach verhindern. Etwas niedergeschrieben zu haben, ist schon mal gut. Aber geben Sie sich damit nicht zufrieden. Es hilft verlässlich, den Text eine Weile lang liegen zu lassen, am besten über Nacht. Wenn Sie ein Exposé oder einen Arbeitsauftrag haben, lesen Sie sich diese noch einmal ganz genau durch. Jetzt sind Sie wieder eingenordet und gehen erneut an Ihren Text, diesmal in der Rolle der Kritikerin. Sie sind eine neue Person und können dadurch zu Ihrem Schreibflow von gestern Abstand gewinnen.
Dazu kommt, dass Sie vielleicht am nächsten oder übernächsten Tag eine ganz andere Stimmung haben. Sind Sie mit dem falschen Fuß aufgestanden? Fein, dann sind Sie umso kritischer! Waren Sie beim Schreiben entspannt und stehen heute irgendwie unter Strom? Auch gut. An manchen Tagen fühlt man sich eben wie ein neuer Mensch, und diese Ambivalenz können wir für die Textarbeit einsetzen. Das ist das ganze Geheimnis – mehr ist es nicht, dieses »ein Text arbeitet über Nacht«.
Aber was tun, wenn die Zeit nicht reicht, wenn ein Abgabetermin drängt? Da überlisten Sie das Ich am besten: Sie versetzen sich aktiv in eine andere Rolle und sparen damit Zeit. Je nachdem, wie Sie gerade drauf sind, können Sie zum Runterkommen meditieren und ein Schläfchen machen oder aber etwas Aufputschendes trinken und wilde Musik hören – da kennen Sie sich selbst am besten. So initiieren Sie einen Stimmungswechsel und denken überhaupt nicht an Ihren Text. Das ist sowieso das Wichtigste: einmal ganz abschalten.
Und weil die meisten von uns eben doch nur Facetten einer einzigen Persönlichkeit in sich tragen, ist es zweifellos noch besser, jemand Zweites auf das Geschriebene schauen zu lassen. Gern jemanden mit einem ganz anderen Blickwinkel auf die Dinge und einem anderen Hintergrund. Das kann bei aller Trickserei so schnell nichts ersetzen.
Veronika Weiss (38) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) in Hamburg arbeitete sie dort als Lektorin. Seit 2021 ist sie frei als Texterin und Lektorin tätig. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.