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Bis zur letzten Seite - warum?

13. April 2022
Veronika Weiss

Sollte man Bücher wirklich immer und grundsätzlich zu Ende lesen? Manchmal bedeutet Durchhalten Lebenszeitverschwendung – was sich durch eine simple Rechnung beweisen lässt.

Eine unter Buchleuten verbreitete These lautet: Niemand hat Ulysses zu Ende gelesen. Oder kennen Sie jemanden? Ich nicht. Bücher zu Ende zu lesen gilt als Tugend. Dabei meine ich fertige (erst recht gedruckte) Bücher, deren Lektüre uns die Freizeit versüßen soll. Im Beruf sieht die Sache anders aus: Es für die meisten von uns, die mit Büchern arbeiten, Routine, sich in aller Kürze einen guten Überblick über einen Text, dessen Inhalt, Stärken, Schwächen und Vermarktbarkeit zu verschaffen.

Aber wie ist es privat? Ich habe es bis vor einiger Zeit nur mit sehr schlechtem Gewissen geschafft, ein Buch nicht bis zum Ende durchzulesen. Denn dazu bin ich erzogen worden. In Schule und Studium ist uns allen großer Respekt vor der Schriftstellerei und Büchern vermittelt worden. Immerhin handelt es sich um Kulturgut. Und für Referate, Buchbesprechungen und Prüfungen musste man jedes Wort gelesen haben. Oder?

Was uns statistisch gesehen bleibt

Nein, es ist unnötig und sogar falsch, Bücher aus Prinzip ganz durchzuackern. Das wurde mir vor ein paar Jahren endgültig klar, als mir ein Artikel in die Finger kam, den ich leider nicht eingerahmt und aufgehängt habe. Aber der klarsichtige Inhalt hat sich mir eingebrannt. Es ist so: Wir können nach der durchschnittlichen Lebenserwartung und anhand unserer Gewohnheiten viele Dinge für den Rest unseres Lebens hochrechnen und bekommen dadurch einen konkreten Eindruck, wie viel uns theoretisch noch bleibt; wie oft wir unsere Eltern noch besuchen werden; wie viele Fernreisen uns noch bevorstehen. Oder eben wie viele Bücher wir in unserem Leben voraussichtlich noch lesen werden.

Für meine Person sieht das ungefähr so aus: Ich kann mit einer Lebenserwartung von grob 87 Jahren rechnen, also werde ich möglicherweise noch 50 Jahre leben. Privat schaffe ich etwa alle zwei Monate ein Buch, also sechs Bücher im Jahr. Damit wären wir bei 300. (Mehr Zeit in der Rente hebt sich mit zunehmender Schwäche im Alter so ungefähr auf, also bleibt es dabei.) 300 Bücher sind verdammt wenig. Die kommen schon fast zusammen, wenn ich alle Bücher, die ich schon immer mal lesen wollte, mit den ungelesenen im Regal und denen neben Bett und Couch addiere …

Mehr Zeit für gute Bücher

Das Leben wird immer voller, und der SuB (Stapel ungelesener Bücher) immer größer. Die gute Nachricht: Wir können diese Berechnung korrigieren, indem wir unsere Ressourcen besser nutzen, von den schönen Dingen mehr machen. Lesen ist eines davon. Mit dem richtigen Buch kann die Zeit verfliegen oder sich ausdehnen, man taucht ein in fremde Welten und Gedankengebäude, erweitert seinen Horizont, lernt andere Kulturen kennen und so weiter.

Aber manche Bücher machen überhaupt keine Freude. Weder im Sinne von Spaß und leichtem Lesen noch im Sinne von Tiefgründigkeit oder Erhellung. Über manche Bücher ärgert man sich einfach nur – wenn der Stil nervt, Figuren unglaubwürdig sind, man sich einfach nicht anfreunden kann … Das Leben ist zu kurz für ungeliebte Bücher.

Wenn nicht mal ein ausgezeichnetes letztes Drittel die Lektüre retten würde, ist es ein Genuss, das Werk wegzulegen. Zur Sicherheit kann man die letzten Seiten lesen. Oder man überfliegt mittels Speed Reading den Rest; so bekommt man mit, worum es geht, spart aber Zeit und Nerven und kann dennoch behaupten, das Buch ganz gelesen zu haben. Jeden Buchstaben zu konsumieren, sind wir niemandem schuldig.

UNSERE KOLUMNISTIN

Veronika Weiss (37) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.