"Es ist Schmerz, Blut, Tod, Zorn und Wut"
Wie geht es Verlagen und Buchhandlungen in der Ukraine? Oleksandr Afonin vom ukrainischen Branchenverband UPBA über einen Hilferuf – und eine Spendenaktion der Börsenvereinsgruppe.
Wie geht es Verlagen und Buchhandlungen in der Ukraine? Oleksandr Afonin vom ukrainischen Branchenverband UPBA über einen Hilferuf – und eine Spendenaktion der Börsenvereinsgruppe.
Das Verlagsgeschäft in der Ukraine befindet sich derzeit in einem anämischen Zustand. Für eine Erholung fehlt es vor allem an Geld.
Oleksandr Afonin, Präsident des Ukrainischen Verlags- und Buchhandelsverband UPBA
Wer helfen will: Zur Spendenaktion der Börsenvereinsgruppe geht es hier.
Herr Afonin, Sie sind vor den russischen Bomben nach Deutschland geflüchtet. Wie geht es Ihnen – und wo leben Sie im Moment?
Ich mag das Wort „geflüchtet“ nicht. Ich verließ Kiew/Kyiv vorübergehend am 7. März, nachdem ich elf Tage in der Stadt unter dem Geheul von Raketenexplosionen verbracht hatte. Ich verließ die Stadt, um in der Lage zu sein, weiterhin aktiv und wirkungsvoll die Arbeit zu verrichten, der ich mich seit 26 Jahren als Präsident des Ukrainischen Verbands der Verleger und Buchhändler widme – um ukrainische Bücher zu bewahren und zu unterstützen.
Seit dem 10. März wohnen meine Frau, meine Katze und ich in einer Mietwohnung der Familie meiner Tochter in Berlin, die seit 12 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Ich habe also zurzeit ein Dach über dem Kopf, Essen und die Möglichkeit, für den Sieg der Ukraine zu arbeiten.
Aufgrund meines Alters und einiger Krankheiten bin ich nicht ganz geeignet für die Rolle eines Verteidigers, also ist es besser, diejenigen nicht zu stören, die wirklich in der Lage sind, Waffen zu ergreifen und unser Land gegen die Eindringlinge zu verteidigen.
Wie halten Sie Kontakt zu den Branchenkolleg:innen in der Ukraine? Und was hören Sie von dort?
Die digitale Kommunikatoin ermöglicht es, mit Menschen überall auf der Welt in Verbindung zu bleiben. Sogar mit der Kriegszone in der Ukraine. Darüber hinaus verfügen wir über eine solide Online-Kommunikationserfahrung, die wir in den zwei Jahren der Coronavirus-Pandemie gesammelt haben. Ich habe mehrere Gruppen auf WhatsApp und Viber erstellt, mit Leitern von Verlagen und Buchhandlungen - sowie eine separate Gruppe mit den Vorstandsmitgliedern des Verbands, die über das weitere Vorgehen in dem derzeit schwierigen Umfeld entscheiden. So habe ich die Möglichkeit, mich täglich mit Kollegen auszutauschen.
Es ist physisch nicht möglich, alles wiederzugeben, was ich von meinen Kollegen höre. Denn es ist Schmerz, Blut, Tod, Zorn und Wut. Jeder brennt vor Verlangen, den wild gewordenen Feind zu besiegen. Dafür brauchen wir die Unterstützung der gesamten zivilisierten Welt angesichts der Aggression Putins.
Viele Verlage und Buchhandlungen, insbesondere in Irpin, haben menschliche Verluste erlitten, ihre Produktionsräume, ihre Buchbestände oder den Zugang dazu verloren.
Oleksandr Afonin
Können ukrainische Verlage und Buchhandlungen ihre Arbeit noch fortsetzen? Oder steht das Alltagsleben still?
Es ist eine Besonderheit des ukrainischen Verlagswesens, dass sich zwei Drittel der Unternehmen in und um Kiew und in Charkiw befinden – das heißt, in Gebieten, die von Anfang an heftig umkämpft waren. Daher haben viele Verlage und Buchhandlungen, insbesondere in Irpin, menschliche Verluste erlitten, ihre Produktionsräume, ihre Buchbestände oder den Zugang dazu verloren. Sie können nur mit der begrenzten Zahl an Büchern arbeiten, die zu Kriegsbeginn in den zentralen und westlichen Regionen der Ukraine vorhanden waren.
Doch selbst in dieser sehr schwierigen Situation stellen ukrainische Verlage ihre Bücher kostenlos denjenigen zur Verfügung, die ihre Heimat verlassen mussten – und heute an anderen Orten in der Ukraine oder in anderen Ländern Europas leben. Die Lagerbestände der Verlage schrumpfen deshalb sehr schnell. Es gibt kein Geld, kein Papier, keine Druckkapazitäten, da die meisten Unternehmen im Kriegsgebiet oder in vorübergehend besetzten Gebieten liegen. Kurzum: Das Verlagsgeschäft in der Ukraine befindet sich derzeit in einem anämischen Zustand: Es lebt, sieht, fühlt, macht die einfachsten Bewegungen, die in diesem Zustand möglich sind, aber es kann noch nicht aufstehen und gehen.
Wie könnte effektive Hilfe aussehen?
Für die ersten Schritte einer systemischen Erholung fehlt es vor allem an Geld. Leider ist der Staat derzeit weder aus dem Haushalt noch aus Kreditmitteln in der Lage, die Wirtschaft zu stützen. Darum ist Hilfe von außen jetzt so wichtig. Wir haben die internationalen Branchenverbände und unsere deutschen Kolleginnen und Kollegen um finanzielle Hilfe gebeten. Die gesammelten Spendengelder sollen an die in der Ukraine registrierte Wohltätigkeitsorganisation Toloka fließen.
Wie werden die Gelder verteilt?
Die Spenden (die übrigens noch nicht vorhanden sind) werden dafür verwendet, Verlage und Buchhandlungen finanziell zu unterstützen - insbesondere diejenigen, die vom Krieg am stärksten betroffen sind. Die Verteilung der Mittel wird vom 15-köpfigen Aufsichtsrat der Stiftung koordiniert, dem ich als Präsident des Ukrainischen Verlags- und Buchhandelsverbands ebenfalls angehöre, zusammen mit Leitern von Verlagen und Buchhandlungen.
Der Aufsichtsrat wird den Spendern berichten, wem, wofür und wie viel finanzielle Unterstützung gewährt wurde. Die Gelder werden auf dem Bankkonto der ukrainischen Bank verwahrt und direkt auf die Konten der juristischen und natürlichen Personen überwiesen, die Hilfe benötigen. Gefördert werden alle Marktteilnehmer, die Hilfe beantragen - unabhängig davon, ob sie Mitglied unseres Verbands sind oder nicht.
Die primäre Aufgabe unserer Stiftung, das möchte ich noch einmal betonen, besteht darin, das professionelle Personal der Verlagsbranche zu unterstützen - eine Gruppe hochgebildeter Menschen, die das Wort kennen und wissen, wie man mit Text umgeht.
Helfen würde uns auch Papier – obwohl wir wissen, dass es europäischen Verlagen derzeit ebenfalls daran mangelt.
Oleksandr Afonin
Was kann die deutsche Buchbranche über Geldspenden hinaus tun?
Helfen würde uns auch Papier – obwohl wir wissen, dass es europäischen Verlagen derzeit ebenfalls daran mangelt. Eine Hilfe kann aber ebenso der Erwerb von Übersetzungsrechten an Werken ukrainischer Autoren aus ukrainischen Verlagen sein. Oder der Kauf verfügbarer Bücher für europäische Bibliotheken beziehungsweise der Verkauf ukrainischer Bücher im Buchhandel. Und natürlich die Möglichkeit, unsere Bücher in europäischen Druckereien drucken zu lassen.
Was können Sie selbst von Deutschland aus tun? Haben Sie auch Kontakte zu anderen Ukrainer:innen, die nach Deutschland gekommen sind?
Tatsächlich bin ich nicht allein. Ich bin eher Dispatcher oder Koordinator. Und in den Prozess unserer Arbeit sind viele Menschen involviert, die ständig Hilfe leisten. Durch meine Arbeit als Verbandsvorsitzender stehe ich hauptsächlich mit den Geschäftsführern und Inhabern von Branchenfirmen in Kontakt, nicht mit den Mitarbeitern. Daher habe ich keine Informationen darüber, wie viele Vertreter der Branche sich heute aufgrund dieser tragischen Ereignisse in Deutschland aufhalten.
Ich weiß aber, dass ein Verleger mit seiner Familie nach Deutschland gegangen ist, nachdem russische Vandalen sein Haus, seinen Verlag und seine fertigen Produkte vollständig zerstört hatten. Und mir ist bekannt, dass sich mehrere Verlagsleiter in Polen, Tschechien, Ungarn und in der Slowakei aufhalten.
Neben Ihrer hauptberuflichen Arbeit für den Verband sind Sie auch Schriftsteller. Können Sie das Schreiben von Deutschland aus fortführen? Oder stehen für Sie jetzt ohnehin ganz andere Themen im Mittelpunkt?
Acht Sammlungen meiner Gedichte sind bis jetzt veröffentlicht worden. Die aktuelle Situation und die Gemütslage lassen die richtige Stimmung für das Schreiben allerdings kaum aufkommen. Deshalb beschränke ich mich auf kurze böse Gedichte, die ich auf meiner Facebook-Seite poste. Im Allgemeinen ist jeder Tag bei mir dermaßen mit den Dingen gefüllt, die ich zu erledigen habe, dass nicht einmal eine Minute übrigbleibt, um sie dem Flug des kreativen poetischen Denkens zu widmen.
Was gibt Ihnen persönlich im Moment Mut und Kraft?
Der Glaube an mein Volk, an seine Weisheit und Stärke. Und an einen bedingungslosen Sieg über den irrsinnigen Feind der Ukraine und der Welt.
Haben Sie die Hoffnung, in einem Jahr wieder in der Ukraine leben zu können?
Ich bin überzeugt, dass ich sehr bald und nicht etwa in einem Jahr in meine Heimat, in mein geliebtes Kiew zurückkehren kann.
Das Interview wurde übersetzt von Wladimir Kutz.
Die Börsenvereinsgruppe hat mit dem ukrainischen Branchenverband eine Hilfsaktion für Verlage, Buchhandlungen und Autor:innen ins Leben gerufen.
So können Sie spenden:
Weitere Hilfsprojekte finden Sie auf boersenverein.de/ukraine – darunter die Crowdfunding-Initiative des europäischen Verlagsverbandes FEP für den Druck ukrainischer Kinderbücher sowie Listen mit ukrainischen Büchern, die von deutschen Verlagen übersetzt werden können.