Kommentar zum Corona-Gipfel

Die unbestimmten Bestimmungen

23. März 2021
Torsten Casimir

Gehört der Buchhandel weiterhin zum Einzelhandel des täglichen Bedarfs? Leider ist die Schicksalsfrage des Sortiments nun ein Fall für den föderalen Auslegungsbetrieb. Ein Kommentar von Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir. 

Torsten Casimir

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie werden immer unübersichtlicher, inkonsistenter, angreifbarer. Nach dem jüngsten Verhandlungsmarathon der Länderchefs und Chefinnen bei der Bundeskanzlerin sind jetzt erneut die Bundesländer am Zug. Allerdings bringt der tief in der Nacht verkündete Beschluss des Corona-Gipfels in vielen Details keine Klarheit, sondern ruft wieder die Gipfel-Exegeten auf den Plan: Wie könnte es gemeint sein? 

Der 16-fache föderale Auslegungsbetrieb wird sich dabei auch mit der Frage beschäftigen, ob der stationäre Buchhandel – von den Tagen der Oster-Ruhe einmal abgesehen – weiterhin geöffnet bleiben darf. In dieser Frage konkurrieren zwei Lesarten des Vorläufer-Beschlusses vom 3. März miteinander.  

Die eine Lesart erinnert an den seinerzeitigen Wortlaut, wonach Buchhandlungen „zukünftig einheitlich in allen Bundesländern dem Einzelhandel des täglichen Bedarfs“ zuzurechnen seien. Die andere Lesart nimmt Bezug auf eine andere Stelle im selben Text, in der (unter dem Stichwort „Notbremse“) bestimmt wird, dass bei regional stabiler Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 100 „die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft“ träten. 

Frag zwei Juristen, welche Karte sticht – „zukünftig einheitlich“ oder „Notbremse“ – und du bekommst drei Einschätzungen.

Es handelt sich offenkundig um hinreichend unbestimmte Bestimmungen. Sie lassen politischen Entscheidungsspielraum und begünstigen gerichtliche Rückschläge wie jenen vom Montag dieser Woche durch das Oberverwaltungsgericht in Münster. Nicht zuletzt rufen sie diejenigen Lobbyisten auf den Plan, die dem Aberglauben anhängen, Phonstärke sei auch eine Stärke. 

Politisch erweist sich das Thema jedoch erst recht als kompliziert. In der kritischsten Phase der Pandemie, in der die Kurve der Neuinfektionen den erwartet schlimmen, exponentiellen Verlauf nimmt, ist starre Interessenvertretung, die nach Ausnahmen von Regeln ruft, aktuell nicht der sympathischste Move. Eine katastrophale Seuche steuert auf ihren Höhepunkt zu – ganz schlechter Moment für Sonderlocken. 

Selbstverständlich lässt sich beklagen, dass die Politik keinen guten Job macht: zu unflexibel beim Testen und Impfen, zu mutlos in ihrer Lockdown-Strategie (die sie nie hatte), zu abhängig von Stimmungen (eine Nebenwirkung, mit der Demokratien in Wahljahren schon mal zu tun kriegen), zu pauschal in ihren Verfügungen, zu unsensibel für eine kluge Beachtung regionaler Unterschiede, zu verschlossen für eine faire Prüfung valider Hygienekonzepte, usw. 

Und doch ist die Buchbranche, die auf ihre besondere gesellschaftliche Rolle hinweisen kann, gut beraten, politisch den jetzt richtigen Ton anzuschlagen. Eine enge Begleitung der Regelungen in den Ländern, Kreisen und Städten scheint erfolgversprechend. Die Lage in den nördlichen Bundesländern zeigt beispielhaft, wie gut das gelingen kann. Denn natürlich braucht es nach dem langen zweiten Lockdown eine Öffnungsperspektive für das stationäre Sortiment. Aber alles sieht danach aus, als hätten gute Argumente derzeit vor Ort – und persönlich vorgetragen – die besten Chancen auf Gehör.  

Dabei werden die Vertreter und Vertreterinnen des Buchhandels auf lokal sehr unterschiedliche Bedingungen eingehen müssen: In Tübingen und Umgebung zum Beispiel stellt sich für sie die Lage günstiger dar als, sagen wir, in Offenbach. Nicht nur die Pandemie-Regeln, auch die Pandemie-Werte ähneln einem Flickenteppich.