Rafik Schami: "Aufwachen!"

Ich bin als Autor seit genau 42 Jahren unterwegs. In Deutschland und Österreich und der Schweiz. Und ich betrachte mit zunehmender Sorge, dass die Innenstädte sterben. In allen Städten. Es gibt keine einzige Ausnahme.  

Ich lebe selbst in der Nähe einer solchen Stadt, die heißt Kirchheimbolanden. Das ist eine wunderschöne pfälzische Stadt, die lange Jahre von den Franzosen beherrscht wurde. Im Auftrag des Kaisers Napoleon wurde von 1807 bis 1811 die alte Römerstraße zur Kaiserstraße "Route Impériale" ausgebaut, die von Mainz nach Paris führte und bis heute in vielen Dörfern und Gemeinden "Kaiserstraße" heißt. Und auch in dieser historischen Stadt ist eine Buchhandlung in Konkurs gegangen. Eine Innenstadt mit Handwerkern, mit kleinen Lädchen, mit Lebensmitteln, mit Buchhandlungen wird immer seltener. Wenn Sie in der Schweiz einmal nach Bern kommen: Unter den Arkaden dort sehen Sie, wie schön eine Innenstadt sein kann.

Ich verteidige die Buchhandlungen, weil hier eine große, große Sache zugrunde geht, wenn wir nicht aufwachen. Sie mögen jetzt denken: "Ja, was erzählt der uns? Trägt er Eulen nach Athen? Wir lieben doch die Buchhandlungen. Wir sitzen sogar auf den Treppen einer solchen." Nein, ich trage keine Eulen nach Athen, sondern einen Distelfinken aus Damaskus nach Hamburg und in andere Städte Deutschlands. Sie werden später sehen, warum ich von einem Distelfinken spreche.

Eine Buchhandlung ist das kulturelle Herzstück einer Stadt. Sie verkauft nicht nur Bücher und berät die Kunden, bis sie genau das Buch finden, das sie suchen, sondern sie bringt die Kultur in die Stadt. 

Wofür ich kein Verständnis aufbringe: Die Milliardäre, die ihr Geld im Internet verdienen, veranstalten keine einzige Lesung in der ganzen Bundesrepublik. Sie zahlen kaum Steuern, weil die EU es ihnen erlaubt, Millionen in diesem Land hier zu verdienen, um dann minimale Steuern in Irland zu bezahlen. Sie bereichern sich im Grunde auf unsere Kosten, weil sie unsere Straßen, unsere Luft belasten und selbst nichts zur Kultur beitragen, keine einzige Veranstaltung.

Wofür ich ebenfalls kein Verständnis habe, das ist das Bestellen beim Riesen im Internet. Man muss in seiner Buchhandlung bestellen. In Deutschland gibt es eine geniale Erfindung, die Preisbindung heißt. Preisbindung bedeutet: Das Buch kostet überall dasselbe, egal, wo Sie das Buch kaufen, ob im Supermarkt oder in einer Buchhandlung oder im Internet. Es gibt also keinen Grund, warum man nicht in der Buchhandlung vor Ort bestellen sollte. Oder über deren Onlineshop. Und Buchhandlungen sind schnell. Innerhalb von 24 Stunden bekommen Sie Ihr Buch. Nur die Apotheker sind schneller. Gott sei Dank. 

Mit Ihrem Kauf sorgen Sie für den Erhalt der Buchhandlungen, die ständig steigende Mieten bezahlen und ihre Mitarbeiter finanzieren müssen. Zum Glück tun Sie das. Dadurch, dass Sie ein Buch oder viele Bücher kaufen. Auch deshalb plädiere ich für die Unterstützung der Buchhandlungen.

Und welche Rolle spielt nun der Distelfink bei alledem? Es reicht nicht, dass Sie wissen, wie wichtig eine Buchhandlung vor Ort ist. Sie müssen es in Ihrer Umgebung weitererzählen. Ich habe das mit Erfolg praktiziert und habe erreicht, dass auch viele Jugend­liche nun eine Buchhandlung aufsuchen. Einer ist auf meinen Rat hin wirklich zum allerersten Mal in eine Buchhandlung gegangen. Er hatte zuerst Hemmungen und war dann überrascht, wie freundlich es dort zuging. Niemand bedrängte ihn, und wenn er Beratung benötigte, bekam er sie.

Daher: Setzen Sie sich für den Buchhandel vor Ort ein, bitte. Es geht nichts von allein. Sagen Sie es allen, "singen" Sie es weiter wie ein Distelfink.

Anmerkung der Redaktion:
Den Appell hat Rafik Schami erstmals in der Hamburger Buchhandlung Felix Jud & Co. vor vielen Zuhörer:innen verkündet. Im Nachtrag hat er im ersten Abschnitt von "die" auf "eine" Buchhandlung präzisiert.