Vom Missbrauch eines Wortes
Wider die Menschenverächter: Der Friedenspreis 2024 geht an Anne Applebaum, die aktuell als renommierteste Expertin sowjetischer Geschichte gilt. Die Preisträgerin und der Frieden – ein Porträt.
Wider die Menschenverächter: Der Friedenspreis 2024 geht an Anne Applebaum, die aktuell als renommierteste Expertin sowjetischer Geschichte gilt. Die Preisträgerin und der Frieden – ein Porträt.
Anne Applebaum war 18 Jahre alt, als sie im Herbstsemester 1982 in Yale ein Seminar in sowjetischer Geschichte belegte – mit Wolfgang Leonhard als Gastprofessor. Die junge Studentin hätte wohl kaum einen Kundigeren finden können: Leonhard, Jahrgang 1921, hatte vor den Nazis fliehen müssen und fand in der Sowjetunion Exil. Damals noch gläubiger Jungkommunist – obwohl seine Mutter Susanne für zwölf Jahre in den stalinistischen Gulag gekommen war – wurde er schließlich bei Kriegsende ausgewählt, mit der sogenannten Gruppe Ulbricht nach Deutschland zurückzukehren und in der sowjetischen Besatzungszone ein Regime installieren zu helfen, das dem Kreml treu ergeben war.
Leonhards nach seiner Flucht in den Westen veröffentlichter Erfahrungsbericht »Die Revolution entlässt ihre Kinder« wurde wegen seines Titels bald sprichwörtlich, galt jedoch in (West-)Deutschland spätestens seit den 70er Jahren vor allem als ein persönliches Dokument, dem zeitgeschichtlich nicht mehr allzu viel abzugewinnen war.
Anne Applebaums 2012 im amerikanischen Original und ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschienene, über 500 Seiten umfassende Studie »Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956« zeigt indessen (auch dank neu erschlossenem Archivmaterial), wie mit der sowjetisch geprägten Ulbricht-Formel »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben« damals nicht nur Ostdeutschland, sondern ein halber Kontinent unter Kontrolle gebracht wurde – während maßgebliche Intellektuelle des Westens in einer Mischung aus Naivität und Resignation lieber nicht so genau hinschauen wollten.
Dass die Machtergreifungen in den jeweiligen Staaten, schleichend oder per Putsch, jedes Mal unter dem Slogan des »Friedensschutzes« vor sich gingen, konnte Anne Applebaum nicht überraschen: Fließend russisch und polnisch sprechend, war sie bereits Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal in die UdSSR gekommen, traf dort auf Täter, Mitläufer und Regimekritiker und erlebte schließlich die Epochenzäsur von 1989 als Warschau-Korrespondentin des britischen »Economist« – inklusive Reisen ins Berlin des Mauerfalls.
Die mannigfaltigen Versuche, die postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas auf Linie zu bringen, finden in Anne Applebaum eine präzise Kritikerin.
Marko Martin
Bereits »Between East and West«, ihr erstes, 1994 erschienenes Buch, erzählte dann von jenen östlichen Realitäten, deren Komplexität im Westen lange Zeit nicht wahrgenommen worden war – und, folgt man Applebaums aktuellen Essays, teilweise auch weiterhin sträflich ignoriert wird. Ihr Buch »Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine« erschien 2017 – vier Jahre nach Putins erstem Angriffskrieg gegen die Ukraine – und rückt den Holodomor ins Gedächtnis, jene vom Kreml erzwungene Hungersnot, die in den Jahren 1932/33 das Leben von mehr als drei Millionen Ukrainern kostete.
Dieses Buch – zusammen mit ihrem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten und längst zum Standard gewordenen Werk über den Gulag – findet sich in Übersetzungen auch längst in zahlreichen osteuropäischen Buchhandlungen und dortigen öffentlichen und Universitätsbibliotheken: Die 1964 in Washington, D. C. geborene Historikerin und Publizistin, die seit 1992 mit dem polnischen Politiker Radosław Sikorski verheiratet ist und mit ihm und den zwei Kindern in Warschau lebt, gilt längst auch hinter dem ehemaligen »Eisernen Vorgang« als die gegenwärtig renommierteste Expertin für sowjetische Geschichte.
Was jedoch auch bedeutet, dass sie mit ihren zahlreichen Wortmeldungen zur Gegenwart – in Reportagen, Essays und Analysen, die unter anderen in der »Washington Post« und seit 2020 im Politikmagazin »The Atlantic« erscheinen – sowohl bei westlichen Beschwichtigern wie auch bei östlichen Nationalisten auf zum Teil wütenden Widerspruch stößt. Gerade weil sie das Fortleben brutalen sowjetischen Expansionsdrangs (samt des hiesigen Köhlerglaubens, dieser ließe sich allein durch Dialog und »Friedensangebote« domestizieren) so eloquent wie faktengestützt dokumentiert, wird der Blick geschärft auch für jene Gefahren, die im Inneren der Demokratien lauern.
Die mannigfaltigen Versuche, die postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas auf Linie zu bringen – in Polen mit der Abwahl der autoritären PIS vorerst gescheitert, jedoch in Orbán-Ungarn nahezu ans Ziel gelangt – finden in Anne Applebaum eine Beobachterin und präzise Kritikerin, die überdies die populistisch-machistischen Egotrips eines Boris Johnson oder Donald Trumps fortgesetztes Streben nach illiberaler Herrschaft bestechend konzis seziert.
Ihr 2020 erschienenes Buch »Die Verlockung des Autoritären« hat in ihrem kürzlich erschienenen »Autocracy, Inc« eine Fortsetzung gefunden – als geopolitische und gleichzeitig psychologische Studie repressiver Machtausübung und jener Ideologien, die derlei flankieren. Wobei, und auch das macht die diesjährige Friedenspreisträgerin deutlich, hier erneut jene manipulative, doch leider äußerst effiziente Machttechnik greift, unter Missbrauch des Wortes »Frieden« Gesellschaften in Richtung Friedhofsruhe zu drängen oder (wie jeden Tag in der Ukraine zu sehen) dort gar hineinzubomben.
Applebaum, die vor nunmehr über vier Jahrzehnten als Studentin Wolfgang Leonhard hörte, steht als inzwischen längst weltweit wahrgenommene »Public Intellectual« mit ihren Analysen dabei nicht zuletzt in jener deutschsprachigen Tradition erfahrungsgesättigter Warnungen, wie sie etwa 1983 in der Frankfurter Friedenspreisrede des 1905 in Galizien geborenen Schriftstellers und Individualpsychologen Manés Sperber zu hören gewesen war.
Sperbers Insistieren, einem pervertierten und kriegsrechtfertigenden Friedensbegriff nicht auf den Leim zu gehen und sich gedanklich, aber auch militärisch gegen die Lügen- und Panzerregimenter der Diktaturen zu wappnen, galt damals so manchen bundesdeutschen Intellektuellen selbst als »Kriegstreiberei«. 2022 war mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan dann ein weiterer Zeitzeuge und Friedenspreisträger mit dem gleichen irrwitzigen Vorwurf konfrontiert worden.
Auch deshalb wird es spannend sein zu sehen, auf welches Echo Anne Applebaums diesjährige Rede bei der Preisverleihung in der Paulskirche stößt.
Anne Applebaum, 1964 in Washington, D. C. als Kind jüdischer Eltern geboren, studierte Russische Geschichte und Literatur, später Internationale Beziehungen. 1988 wurde sie in Polen Auslandskorrespondentin für die britische Zeitschrift »The Economist«, heute schreibt die Pulitzerpreisträgerin vor allem für die US-Zeitschrift »The Atlantic«.
Schon früh warnte sie vor einer möglichen gewaltvollen Expansionspolitik Wladimir Putins. Die Publizistin ist mit dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski verheiratet. Am 20. Oktober wird ihr in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis verliehen.
Die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin hat mit ihren so tiefgründigen wie horizontweitenden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt und sie anhand der Dokumentation zahlreicher Aussagen von Zeitzeug:innen verstehbar und miterlebbar gemacht.
Mit ihren Forschungen zur Wechselwirkung von Ökonomie und Demokratie sowie zu den Auswirkungen von Desinformation und Propaganda auf demokratische Gesellschaften zeigt sie auf, wie fragil diese sind – besonders, wenn Demokratien von innen, durch Wahlerfolge von Autokraten, ausgehöhlt werden.
Historiografische Erkenntnisse mit wacher Gegenwartsbeobachtung zu verbinden,das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke. In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.
Marko Martin lebt als Schriftsteller in Berlin. In der Anderen Bibliothek erschien, neben zwei Erzählbänden, sein Essayband »Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters«. Soeben veröffentlicht: »Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober« (Tropen Verlag).