Friedenspreisträger Salman Rushdie beim Literaturfestival in Berlin

Eines Morgens lief ihm die Superheldin aufs Schreibpapier

11. September 2023
Redaktion Börsenblatt

Im Oktober bekommt Salman Rushdie den Friedenspreis. Jetzt trat er digital schon mal in Berlin auf, mit Laudator Daniel Kehlmann und Übersetzer Bernhard Robben. Ein bewegender Sonntag im Berliner Ensemble, der um magischen Realismus und Rushdies neue Romanheldin kreiste. Nicola Tams war für boersenblatt.net dabei.

Salman Rushdie wird digital zugeschaltet: Übersetzer Bernhard Robben (links) und Daniel Kehlmann - Schriftsteller, Freund und Laudator - begrüßen ihn. Rechts sitzt die Schauspielerin Cynthia Micas (r), die aus "Victory City" vorlas

Haben Sie schonmal Salman Rushdie dabei zugesehen, wie er von Batman und Superwoman erzählt, während sich eine Schauspielerin, ein Übersetzer und ein deutsch-österreichischer Schriftsteller an einem heißen Spätsommertag auf einer Theaterbühne an die Übertragung ins Deutsche wagen? Ich nicht. Bis gestern.

Die Veranstaltung mit Rushdie fand im Rahmen des 23. Internationalen Literaturfestivals Berlin statt. Ganz rechts auf der Bühne des Berliner Ensembles saß die Berliner Schauspielerin Cynthia Micas, die schon in vielen Theatern, aber auch in Filmen von Rainer Kaufmann und Rosa von Praunheim zu sehen war.

Der literarische Übersetzer Bernhard Robben lenkte als Moderator ebenso fein- wie scharfsinnig durch den Abend. Robben überträgt die Werke von Salman Rushdie ins Deutsche – der Schriftsteller ist für ihn auch ein Freund.

Am 14. August 2022, also vor gut einem Jahr, überlebte Rushdie ein Attentat mit mehr als 15 Messerstichen. Jeder Stich, so erzählt Robben, zielte an einem zentralen Organ vorbei.

I’m pretty much alright now, with the exception of this eye.

Salman Rushdie bei seinem Videoauftritt in Berlin, gut ein Jahr nach dem Attentat

Ein Jahr nach dem Attentat

In diesem Jahr, am 22. Oktober, wird Salman Rushdie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sein Schriftsteller-Kollege und Freund Daniel Kehlmann wird die Laudatio halten. Auch er war im Berliner Ensemble dabei. Und natürlich Rushdie selbst, zugeschaltet via Bildschirm. Nach einem kurzen Moment der Stille ist Rushdie zu sehen und zu hören: „I’m pretty much alright now, with the exception of this eye.“

Unweigerlich geht der Blick zur schwarzen Augenklappe, die sein rechtes Auge verdeckt und auf die verletzte Gesichtshälfte, die er manchmal kurz mit seinem Finger berührt. „Berührend, bewegend“ sei das Bild gewesen, sagen zwei Zuschauerinnen, die nach der Veranstaltung auf einer Bank vor dem Berliner Ensemble sitzen.

Ein Jahr nach dem Attentat kehrt Rushdie in die Öffentlichkeit zurück. Sein jüngstes Buch "Victory City" (Penguin, April 2023) hatte er kurz vor dem Angriff fertiggestellt. Veröffentlicht wurde es erst danach. Robben erzählt, dass er am 12. August gerade an der Übersetzung gearbeitet habe, als er von dem Attentat erfuhr.

Pampa Kampana, Schöpferin und Superheldin

Der Roman spielt im alten Indien. Protagonistin ist Pampa Kampana. Ihre Mutter, eine Witwe, verbrennt sich selbst vor den Augen des Mädchens. Und Kampana erschafft aus diesem Trauma eine neue mythische Welt der Gleichberechtigung und der individuellen Freiheit. Die Heldin, die bei einem Mönch aufwächst, der sie missbraucht, wird später zur Gründerin von Bisnaga, einer utopischen Stadt.

In seinem Buch gehe es um „Victory and Defeat“, um Sieg und Niederlage, so Rushdie. Pampa Kampana ist Prophetin, Schöpferin, Halb-Göttin. Rushdie wollte der männlich geprägten Geschichte indischer Mythen eine weibliche Protagonistin hinzufügen: Pampa Kampana, die Superheldin.

Das erinnert Daniel Kehlmann an die Marvel Movies, in denen durch etwas Metamenschliches das Menschliche zu sehen ist. Wie bei Supermann. Wenn man in Indien mit seiner Obsession für Bollywood, mit seinen Filmen voller Magie aufgewachsen sei, dann spiegele sich dieses Erbe eben auch im Schreiben wieder, sagt Rushdie („This heritage creeps into these books“).

Sein Übersetzer erinnert zudem daran, dass Rushdie über das Schreiben von Kinderbüchern zur Literatur gekommen sei und sich vielleicht auch deshalb dieses magische Element erhalten habe. „Magical realism“, laut Übersetzer Robben ein Oxymoron – die Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe.

Tatsächlich scheint auch Rushdie selbst viele Widersprüche in sich zu vereinen. Sein Interesse gilt, wie Robben erzählt, genauso Batman wie den Geschichtsbüchern.

Die Heldin hat mich gefunden: "Lass mich dir die Geschichte erzählen, und du schreibst sie für mich auf.“

Salman Rushdie über "Victory City"

Könige verschwinden - der Storyteller bleibt

Wie fiktional ist Pampa Kampana? „Sie ist ausgedacht,“ sagt Rushdie: „Sie hat mich gefunden. Eines Morgens lief sie mir auf mein Blatt Papier. Lass mich dir die Geschichte erzählen, und du schreibst sie für mich auf.“ Die Protagonistin rede und er eile ihr hinterher. Das nennt man wohl Inspiration. So wie Übersetzer Robben immer die Stimme von Salman Rushdie im Ohr hat, der die Übersetzung seiner Worte kommentiert.

Sein magisch-realistisches Gespür teilt Rushdie mit Daniel Kehlmann, der Robben zufolge mal gesagt hat, dass er am liebsten „wie ein verrückt gewordener Historiker“ erzählen würde. Heute jedoch hat sich Kehlmann davon wieder entfernt: In Zeiten von Geschichtsfälschung erhalte dieser Wunsch eine andere Färbung, so Kehlmann in Berlin – besonders in Deutschland.

Könige und Königinnen kommen und gehen, doch der Storyteller bleibt. Ihm gehört das letzte Lachen: Mit diesen Worten beendet Rushdie seinen digitalen Berlin-Besuch. Dann verstummt er, weil der Ton schon wieder hakt – bevor auch sein Bild verschwindet.