Erstes Interview mit Friedenspreisträger Salman Rushdie

Rushdie: "Literatur kann den Geschmack der Freiheit verbreiten"

19. Juni 2023
Michael Roesler-Graichen

Salman Rushdie, der leidenschaftliche Kämpfer für die Freiheit des Denkens und der Literatur, wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 gewürdigt. Ein erstes Gespräch mit dem Schriftsteller an seinem 76. Geburtstag. 

Was bedeutet Ihnen der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels? Sind Sie glücklich, ihn zu erhalten?
Dies ist eine der wichtigsten Auszeichnungen in der Welt der Bücher, und es ist mir eine große Ehre, dass mein Name in einer Reihe mit den früheren, so außergewöhnlichen Preisträgern genannt wird. Ich bin natürlich hocherfreut.

Und sind Sie zufrieden, dass dieser Preis nicht nur Ihr literarisches Werk würdigt, sondern auch Ihre Person und Ihr Engagement für eine Welt in Frieden und gegenseitigem Verständnis?
Ich habe 50 Jahre lang versucht, das beste Werk zu schaffen, dass ich zu machen fähig bin, und hoffe daher, dass der Preis die Aufmerksamkeit auf dieses Werk richtet. Ich führe das Leben eines Künstlers und hoffe, dass die Jury dies ebenso gesehen hat. Als Bürger engagiere ich mich für die Ideale, die Sie erwähnen, besonders in einem Moment, in dem sowohl Frieden als auch Verständigung ferne Träume zu sein scheinen.

Als Bürger engagiere ich mich für Frieden und Verständigung, besonders in einem Moment, in dem diese Ideale ferne Träume zu sein scheinen.

Salman Rushdie

In Ihrem Leben und in Ihrer Laufbahn als Schriftsteller haben Sie immer die Freiheit der Meinungsäußerung verteidigt. Sind Sie zuversichtlich, dass das freie Wort, besonders in der Literatur und in der Presse, den Anfechtungen autoritärer Propaganda, illiberaler Tendenzen in demokratischen Gesellschaften und der Manipulation durch Künstliche Intelligenz standhalten kann?
Niemand sollte zuversichtlich sein im Angesicht der Angriffe und Gefahren, die Sie nennen. Aber gerade dies macht den Kampf umso wichtiger.

33 Jahre nach dem Fatwa-Todesurteil waren Sie im August 2022 das Ziel einer Messerattacke mit schwerwiegenden Verletzungen. Haben Sie einen Weg gefunden, diese traumatische Erfahrung zu verarbeiten – auch in Ihrer literarischen Arbeit?
Als Reaktion auf das, was letzten August geschah, schreibe ich ein Sachbuch. Die Arbeit geht gut voran – die Antwort auf Ihre Frage ist daher ja.

"Worte sind die einzigen Sieger". So lautet der letzte Satz in Ihrem jüngsten Buch „Victory City“. Literatur kann nicht politische oder militärische Katastrophen überwinden – aber kann sie den Geschmack der Freiheit unter Menschen verbreiten, die bisher auf ein freies Leben verzichten mussten?
Ja, ich glaube, dass sie das kann. Und als Schriftsteller können wir Gegenerzählungen bieten zu den unehrlichen Erzählungen, die von vielen skrupellosen Elementen verbreitet werden.

Als Schriftsteller können wir Gegenerzählungen bieten zu den unehrlichen Erzählungen, die von vielen skrupellosen Elementen verbreitet werden.

Salman Rushdie

Sie sind ein scharfer Kritiker von Religion wegen ihres totalitären Potenzials. Glauben Sie, dass eine friedvolle religiöse Praxis möglich ist? Erfordert dies eine Religion, die sich ausschließlich auf das Individuum fokussiert und nicht auf die Gesellschaft?
Ich habe kein Problem mit der privaten Ausübung von Religion. Ich glaube, wir alle sollten ein Problem mit den politisierten Versionen von Religion haben, die ein Merkmal der Gegenwart sind – Versionen, die den Glauben (buchstäblich) als Waffe einsetzen.

Die englischsprachige Version des Interviews lesen Sie hier: