Friedenspreis für Anne Applebaum

Die schleichende Anziehungskraft der Autokratie

20. Oktober 2024
von Sabine Cronau

Wer "Pazifismus" fordere und nicht nur Gebiete an Russland abtreten wolle, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der habe rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt: Das machte Anne Applebaum an diesem Sonntag in der Frankfurter Paulskirche deutlich. Die amerikanisch-polnische Historikerin und Publizistin ist zum Abschluss der Messewoche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden. Ihre hochpolitische Rede dürfte für Diskussionsstoff sorgen.

Ankunft Paulskirche: Friedenspreisträgerin Anne Applebaum und Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs

Die Verleihung des Friedenspreises ist vielleicht ein guter Moment, um darauf hinzuweisen, dass der Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument ist.

Anne Applebaum, Friedenspreisträgerin 2024

Rund 700 Gäste aus Kultur und Politik kamen zur Preisverleihung – darunter Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, der italienische Autor Roberto Saviano und Oleg Orlov, Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022). Alle Reden zum Nachlesen finden Sie hier.

"Gegen den Pessimismus"

So überschrieb Anne Applebaum, die sich in ihren Werken intensiv mit sowjetischer Geschichte, aber auch mit dem aktuellen Erstarken von Autokratien beschäftigt hat, ihre mit Spannung erwartete Rede.

Dabei nahm sie unter anderem auf den früheren Friedenspreisträger Manès Sperber Bezug. Sperber hatte 1983 angesichts der sowjetischen Bedrohung vor dem lauten Ruf nach Abrüstung gewarnt – unter anderem mit den Worten:

„Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“

Sie zitiere daraus, weil „die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht so neu sind, wie sie scheinen“, sagte Anne Applebaum und verwies dabei nicht zuletzt auf die deutsche Geschichte.

„Die Verleihung des Friedenspreises ist vielleicht ein guter Moment, um darauf hinzuweisen, dass der Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument ist. Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.“

Schon früher hätten aggressive Diktaturen die freiheitlichen Gesellschaften Europas bedroht, betonte Applebaum.

„Schon früher haben wir gegen sie gekämpft. Und diesmal ist Deutschland eine der freiheitlichen Gesellschaften und kann den Kampf mit anführen. Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen, und zwar nicht nur für die Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen.“

Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen.

Anne Applebaum

Die Versuchung, in Pessimismus zu verfallen, sei in dieser Zeit groß, sagte Applebaum. Angesichts eines nicht endenden wollenden Krieges und der Propagandaflut sei es einfacher, den Gedanken des Niedergangs zu akzeptieren.

„Aber erinnern wir uns, was auf dem Spiel steht, und wofür die Ukrainer kämpfen – und dass sie es sind, die diesen Kampf führen, und nicht wir. Sie kämpfen für eine Gesellschaft wie die unsere, in der eine unabhängige Justiz die Bürger vor Willkür schützt; die das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wahrt; in der Bürger am öffentlichen Leben teilhaben können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen; deren Sicherheit durch ein breites Bündnis von Demokratien garantiert und deren Wohlstand in der Europäischen Union verankert ist.“

Autokraten wie Putin würden genau diese Grundsätze fürchten – weil sie ihre Macht gefährden. Applebaum hat sich schon früh mit Putin Machtzielen und Russlands Weg in die Autokratie beschäftigt. Ein Markstein dieser Entwicklung ist für sie der 20. Februar 2014, als russische Truppen die Halbinsel Krim besetzten. Damals sei Russland bereits auf dem Weg in eine totalitäre Gesellschaft gewesen, „nach zwei brutalen Kriegen in Tschetschenien, der Ermordung von Journalistinnen und der Verhaftung von Kritikern“.

Ab 2014 jedoch habe sich diese Entwicklung beschleunigt, der Überfall auf die Ukraine habe auch eine schärfere Politik nach innen zur Folge gehabt, so Anne Applebaum: mit der Unterdrückung der Opposition und dem Verbot unabhängiger Einrichtungen wie der Menschenrechtsorganisation Memorial. „Seit 2018 wurden mehr als 116.000 Russen angeklagt, weil sie ihre Meinung kundgetan hatten. Tausende wurden verurteilt, weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hatten. Ihr heldenhafter Kampf findet meist im Verborgenen statt.“

Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen.

Anne Applebaum

Für Applebaum hat die Verbindung von Autokratie und imperialen Eroberungskriegen dabei Methode:

„Wer glaubt, dass er und sein Regime das Recht hat, alle Institutionen, Informationen und Organisationen zu kontrollieren; dass man Menschen nicht nur ihre Grundrechte nehmen kann, sondern auch ihre Identität, ihre Sprache, ihr Eigentum und ihr Leben, der glaubt natürlich auch, dass er das Recht hat, jedem nach Belieben mit Gewalt zu begegnen.“

Die Aufgabe, gegen Russland und andere Autokratien aufzustehen, ist für die Friedenspreisträgerin aber keineswegs nur rein militärischer Natur: Die stärksten Waffen im Kampf gegen die Diktatur seien „unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben“, betonte die Friedenspreisträgerin, die vom Paulskirchen-Publikum mit „Standing Ovations“ bedacht wurde.

Ihre Rede war dabei sehr deutlich auch an politische Strömungen in Deutschland adressiert, die laut nach Frieden rufen, aber nicht den Preis dafür nennen:

„Dies ist auch ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, den Pessimismus und die schleichende Anziehungskraft der Autokratie, die bisweilen im Gewand einer verlogenen Sprache des `Friedens´ daherkommt.

Die Behauptung, dass Autokratie sicher und stabil ist, während Demokratien Kriege schüren, oder dass Autokratien traditionelle Werte bewahren, während Demokratien »entarten« – auch dieses Gerede wird von Russland und der autokratischen Welt verbreitet, aber auch von Menschen in unseren eigenen Gesellschaften, die bereit sind, das vom russischen Staat verursachte Blutvergießen und Vernichtungswerk hinzunehmen.

Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen. Selbstgefälligkeit ist wie ein Virus, das sich schnell über Grenzen hinweg ausbreitet.“

Wie nur wenige hat Anne Applebaum uns gewarnt, dass das, was als eine narrative Linie beginnt, in eine echte Frontlinie münden kann.

Irina Scherbakowa, Laudatorin

Die feine Linie zwischen Wahrheit und Lüge

Die Laudatio hielt Irina Scherbakowa. Die russische Germanistin und Menschenrechtlerin ist Vorstandsvorsitzende der in Berlin gegründeten Exilorganisation Memorial Zukunft und lebt seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Berlin und Isreal.

Anne Applebaum habe als eine der ersten im Westen gespürt, wie der russische Staat in seinem Versuch, sich seine eigene Ideologie zu erschaffen, den Blick immer stärker auf die Vergangenheit gerichtet habe, so Scherbakowa.

Nahezu alle Bücher der Historikerin seien vorausschauend gewesen. Sie würden zeigen, wie Russlands nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Sowjetimperium begonnen habe und „in dem blutigen, krampfhaften Versuch gipfeln, dieses Imperium durch den Angriff auf die Ukraine zurückzuerobern“, so Scherbakowa:

„Liest man es heute, erkennt man klar, dass dieses Verbrechen an einem souveränen Land und seinen Menschen keine Anomalie oder ein Moment des Wahnsinns ist, sondern das zentrale Merkmal, die Quintessenz der Ideologie Putins.“

Anne Applebaums Rolle als Historikerin und öffentliche Intellektuelle sieht Scherbakowa heute darin, sicherzustellen, dass die feine Linie, die die Wahrheit von der Lüge in der Vergangenheit und in der Gegenwart trennt, bestehen bleibe und nicht durch Autokraten und Propagandisten verwischt werde.

„Denn wie nur wenige hat sie uns gewarnt, dass das, was als eine narrative Linie beginnt, in eine echte Frontlinie münden kann. Wir sollten ihr alle für ihre Klarheit dankbar sein.“

Frieden ist kein Geschenk. Frieden ist die größte Aufgabe unserer Zeit.

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Auch für Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, bezieht Applebaum mit bestechender Klarheit Position zur aktuellen Politik:

„Liebe Anne Applebaum, mit Ihren beiden jüngsten Büchern über die Entstehung eines weltumfassenden autokratischen Netzwerkes, das die Schwachstellen in unseren demokratischen Systemen detailliert analysiert und für sich zu nutzen weiß, geben Sie uns zwei wertvolle Ratgeber an die Hand. Sie helfen, die Welt zu verstehen, wie sie ist.

Der Friedenspreis wurde zum 75. Mal vergeben. An diese lange Tradition erinnerte die Vorsteherin abschließend mit den Worten: „Frieden ist kein Geschenk. Frieden ist die größte Aufgabe unserer Zeit.“

Wer die Pflichten der Demokratie aufgibt, wird die von ihr gegebenen Rechte verlieren.

Mike Josef, Oberbürgermeister von Frankfurt am Main

Mahnende Worte kamen ebenfalls von Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef in seinem Grußwort:

„Wer die Pflichten der Demokratie aufgibt, wird die von ihr gegebenen Rechte verlieren. Es ist unser aller Pflicht, die Demokratie zu verteidigen, weil sie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und ein friedlicheres Zusammenleben ermöglicht.“

Seit 1950 vergibt der Börsenverein zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert.